Hinter diesen blauen Bergen

Hinter diesen blauen Bergen

von: Milena Moser

Nagel & Kimche, 2017

ISBN: 9783312010318

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1437 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hinter diesen blauen Bergen



Die Spinnenflüsterer


Während ich auf meine Regale warte, will ich den kleinen Garten endlich zu meinem machen. Bisher habe ich mich nie besonders darum gekümmert, ich war nie lange genug hier. Aber ich wusste immer, dass ich den Efeu, der das Haus auf zwei Seiten komplett überwuchert, nicht haben will. Ich mag Efeu nicht, die glänzenden grünen Blätter wirken auf mich mehr künstlich als romantisch. Nach dem Kraftakt in Victors Garten scheint mir diese Aufgabe leicht und überschaubar. Also ziehe ich die Gartenhandschuhe an und greife in die sattgrünen Blätter. Eine schwarzglänzende Spinne krabbelt über meine rechte Hand. Eine schwarze Witwe? Denn die gibt es hier, und auch die braune Einsiedlerspinne. Meine irrationale Angst vor Spinnen habe ich vor Jahren überwunden, indem ich einen vierstündigen Kurs im Zürcher Zoo besuchte. Aber der Respekt vor giftigen Bissen ist geblieben. Und zwar berechtigt. Letztes Jahr habe ich in der Yogastunde eine Frau kennengelernt, die von so einer braunen Einsiedlerspinne gebissen worden war. Sechs Monate später war ihre ganze rechte Gesichtshälfte noch geschwollen und blau-violett verfärbt.

In Victors Garten wurde ich auch von Spinnen gebissen. Harmlosen nur. Kreisrunde Male mit einem roten Punkt in der Mitte, wie Zielscheiben, zieren meine Knöchel. Ich lasse die Hände sinken. Mein Blick schweift über das grüne Dickicht, das sich vor meinen Augen auszubreiten, zu vergrößern scheint. Bis ich mir nicht mehr vorstellen kann, es zu bewältigen. Plötzlich mag ich nicht mehr. Das klingt so einfach: Ich mag nicht mehr. Aber es kostet mich immer noch Überwindung, das einzusehen.

Ich tue, was ich in solchen Situationen immer tue: Ich rufe Doris an. «Doris, ich brauche Hilfe», sage ich. Na also! So schwer ist das ja gar nicht.

Doris weiß auch sofort Rat: «Ich schick dir Arie und Gary vorbei.»

Arie wohnt ganz in meiner Nähe im Gärtnerhaus eines reichen Kunstsammlers. Vormittags kümmert er sich dort um alles, was in der parkähnlichen Gartenanlage anfällt, nachmittags hat er frei. Sein Freund Gary ist Kunstlehrer, jetzt in Pension. Ein paar Jahre lang haben die beiden in Costa Rica gelebt und eine Kunstschule geführt. «Wir hatten ein schönes Leben dort», sagt Arie. Er wäre gern dort geblieben. Aber Gary, der in Santa Fe aufgewachsen ist, hatte Heimweh. Er hat erwachsene Kinder hier, Enkel, er ist ein Familienmensch. Arie hingegen tut sich schwer mit dem Ortswechsel, er vermisst das vergleichsweise sorglose Leben in der Karibik.

«In Costa Rica hatten wir zwei Häuser, hier kann ich kaum die Rechnungen bezahlen …» Er ist froh um jeden Auftrag. Und er hat auch keine Angst vor Spinnen. Am selben Nachmittag fährt er mit seinem Truck vor. Er trägt Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichen, und ein todschick gemustertes Leinenhemd. Ein paar Stunden später kommt Gary dazu, ein bisschen älter, aber ebenso drahtig und elegant. Schweigend macht er sich an die Arbeit. Die alteingesessenen Santa Feaner sind wortkarg, stolz und taff. Sie fühlen sich den Neuzuzüglern, Rentnern und Ferienhäuslern eindeutig überlegen. Überlebt erst mal ein paar strenge Winter hier, scheinen sie zu denken. Versucht mal, ohne viel Geld durchzukommen. Beweist uns erst mal, dass ihr wirklich hier leben könnt. Dass ihr hierhergehört!

Durch Doris lerne ich diese unsichtbare Schicht der Dienstleistenden kennen, die den Lebensstil der Reichen und Berühmten erst möglich macht. Die Handwerker, house sitter, Hundehüter, Putzfrauen, Gärtner und handymen, die die vielen leerstehenden Häuser in Schuss halten, die Besitzer sozusagen vertreten. Für Mittel- bis Wenigverdiener gibt es kaum bezahlbaren Wohnraum in Santa Fe, zu mieten schon gar nicht. Die Villen der Reichen stehen den größten Teil des Jahres leer. Deshalb ist das bezahlte Häuserhüten, das house sitting, ein recht erfolgreiches Modell. Doris hat eine Kundin, die sie nur dafür bezahlt, dass sie die Schachteln auspackt, die sie in ihrer Abwesenheit von etlichen Versandhäusern geliefert bekommt. Oft stellt sie dann fest, dass sie die gleiche Lederjacke schon einmal gekauft hat, und gibt sie an Doris weiter. «Ich habe überhaupt kein Geld», lachte diese. «Aber ich trage Designerkleider und schlafe in den spektakulärsten Anwesen der Stadt!» Wer zuverlässig und gewissenhaft arbeitet, hat immer Kunden. So gibt es eine Crème de la Crème der Dienstleister, die so ihre Kunst finanziert, ihr Schreiben, ihre Reisen, ihre unprofitablen Tätigkeiten. Damit sind sie in guter Gesellschaft: Auch die Cinco Pintores, die «Fünf Maler», die Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Lehrern von der Ostküste hierher folgten, verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Handwerker. Sie waren die ersten noch nicht etablierten Künstler, die sich hier niederließen. Nachdem sie für sich selber die ersten fünf Adobehäuser in der Stadt gebaut und einiges dabei gelernt hatten (ihre ersten Versuche fielen immer wieder in sich zusammen), boten sie ihre Dienste den etablierteren Künstlern vor Ort an. Und später den Damen der höheren Gesellschaft, die die Adobe-Bauweise für sich entdeckten und den Pueblo-Revival-Boom vorantrieben. Damals wie heute war der Handwerker bei Tag gern gesehener Gast bei den Partys am Abend. Es gibt ein Klassendenken, aber es orientiert sich weniger an Geld und Besitz. Hier geht es um etwas anderes, um Durchhaltevermögen, Langlebigkeit. Die Alteingesessenen haben das Sagen. Wer zuerst hier war, gewinnt. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass ich auf Gary höre und nicht er auf mich.

Die Wand, die unter dem Efeu hervorkommt, ist hässlich. Die Zweige und Wurzeln haben ein Netz in die braune Farbe geätzt. «Das muss neu gestrichen werden», bestimmt Gary.

«Finde ich auch.» Das ist leichter gesagt als getan. Mein Haus ist denkmalgeschützt. Wir müssen also nicht nur der Hauseigentümergemeinschaft, sondern auch der Historischen (oder Hysterischen, wie man sie hier nennt) Gesellschaft Farbmuster zur Bewilligung vorlegen. Obwohl mein Haus hinter einem zwei Meter hohen Coyotezaun aus unbehandelten Holzstämmen versteckt und nicht einmal vom Parkplatz aus einsehbar ist. Außerdem will ich gar nichts anderes als eine der traditionellen Lehmfarben, ein rötliches hellbraun – und natürlich türkisfarbene Fensterrahmen.

Ich bespreche das mit Bill, der zwar nicht mein nächster Nachbar ist, aber der, den ich am häufigsten sehe. Sein Häuschen geht auf den Parkplatz hinaus, und seine Tür steht meist offen. Er wohnt am längsten hier, jedenfalls seit Martha, die die Galerie an der Straße führte, mit ihrem jungen Ehemann nach Hawaii ausgewandert ist. Noch steht die Galerie leer. Es ist nicht das einzige «Zu vermieten»- oder «Zu verkaufen»-Schild, das in einem Schaufenster hängt. Die Canyon Road ist die älteste Straße der Stadt. Genau genommen ist sie sogar älter als die Stadt selber. Sie führte vom Pecos Pueblo am Santa Fe River entlang. Die spanischen Eroberer bauten kurz nach der Gründung der Stadt 1610 einen bis heute existierenden Bewässerungsgraben parallel zur Canyon Road: Acequia Madre, der Mutterkanal. Er führte das Wasser von den Sangre-de-Cristo-Bergen zu den Kornfeldern, die die Straße säumten. Die US-Armee richtete Mitte des 18. Jahrhunderts eine Sägemühle an der Straße ein, um das Holz für den Bau der Macy-Festung zu verarbeiten.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts besuchten vermehrt Künstler Santa Fe. Sie ließen im Sunmount-Sanatorium ihre Tuberkulose und andere Lungenleiden behandeln. Wer blieb, ließ sich am Camino del Monte Sol nieder, etwas oberhalb der Canyon Road, die sich immer mehr zur Geschäftsstraße entwickelte. Damals waren es aber nicht Galerien, sondern vor allem Lebensmittelläden, und während der Prohibition auch ein paar illegale Schnapsläden. Zu dieser Zeit wurde vermutlich auch die kuriose Ansammlung von Nebengebäuden gebaut, die Bill und ich heute bewohnen. Als Wohnstraße war die Canyon Road damals nicht begehrt. Die leerstehenden Bauernhäuser waren günstig, was naturgemäß viele Künstler anlockte. Und diese Künstler luden Kunden in ihre Studios ein. So entwickelte sich die Galerienlandschaft von heute. Es gibt über hundert Galerien, von denen viele immer noch nur den Maler ausstellen, dem sie gehört. 1962 wurde die Canyon Road als residential arts and crafts district eingezont. Damals bürgerte sich der «gallery crawl» am späten Freitagnachmittag ein. Man schlenderte von einer Ausstellungseröffnung zur nächsten, trank überall ein Glas Wein oder einen Tequila, aß etwas, diskutierte über Kunst und versammelte sich dann in der letzten Galerie der Straße, um bis tief in die Nacht weiterzutrinken und die Bilder zu begutachten. Die Kunstszene war lebhaft, eng ineinander verhakelt und heillos zerstritten. Und nicht gerade kommerziell fokussiert. Das änderte sich in den achtziger Jahren, als ein Artikel in einer Lifestyle-Illustrierten Santa Fe zum «place where it happens» erklärte und eine neue Einwanderungswelle auslöste, die die Stadt kaum verkraftete. Gleichzeitig begann so auch Santa Fes Affäre mit dem Massentourismus, eine Hassliebe, die bis heute anhält und die Stadt immer stärker beherrscht. Die Immobilienpreise klettern in für Künstler, Einheimische und Familien schwindelerregende Höhen. Touristenbusse fahren die Canyon Road hinauf und hinab, die Kunst wird über Lautsprecher erklärt, wer keine Lust hat, muss nicht einmal aussteigen. Auch heute sieht man Maler vor ihren Galerien stehen und an halbfertigen Bildern pinseln. Sie tragen Strohhüte und Seidenschals und erinnern an die Gondoliere in Venedig – sie imitieren das Bild, das sie sich von sich selbst machen. Und obwohl wir das erkennen, sind sie trotzdem echt – sie sind da und leben ihr Leben. Mir...

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