Soziale Risiken im frühen Kindesalter - Grundlagen und frühe Interventionen

Soziale Risiken im frühen Kindesalter - Grundlagen und frühe Interventionen

von: Klaus Sarimski

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840924170

Sprache: Deutsch

172 Seiten, Download: 11295 KB

 
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Soziale Risiken im frühen Kindesalter - Grundlagen und frühe Interventionen



In beiden Stichproben zeigten sich signifikante Effekte von kontinuierlicher Einkommensarmut auf die Testergebnisse der Kinder. Ein solcher Effekt ließ sich bereits in den Entwicklungstestergebnissen im Alter von 2 Jahren nachweisen (Smith et al., 1997). Er war unabhängig vom mütterlichen Bildungsniveau.

Negative Auswirkungen von Einkommensarmut, wie sie sich in diesen amerikanischen Forschungsergebnissen zeigen, bestätigen sich in deutschen Studien zum Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder. Nirgendwo sonst spielt der soziale Status der Eltern auch nur annähernd so eine entscheidende Rolle wie in Deutschland, wenn es um den Schulerfolg der Kinder geht. Das wird besonders deutlich in Phasen des Übergangs von der Grundschule in das – in den meisten deutschen Bundesländern unverändert nach der 4. Klasse – gegliederte System weiterführender Schulen. Wenn zwei Kinder identische Leistungen bringen, dann hat der Sohn eines Arztes oder Anwalts eine dreimal so große Chance, eine Empfehlung für den Besuch des Gymnasiums zu bekommen, wie das Kind eines Arbeiters. 83 % der Kinder von Vätern mit Hochschulabschluss studieren ebenfalls, während dies nur für 23 % der Kinder von Nichtakademikern zutrifft (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2008). Niedrige Schulabschlüsse sind ihrerseits gleichbedeutend mit einem hohen Risiko für die Jugendlichen, selbst arbeitslos zu werden. Ein Hauptschulabschluss ist heute in vielen Fällen nicht mit einer Aussicht auf eine Lehrstelle verbunden, sodass dann viele junge Erwachsene auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen bleiben.

Ein Beispiel aus der Forschung: Die AWO/ISS-Studie

Für Deutschland liegt mit der AWO/ISS-Studie „Gute Kindheit – schlechte Kindheit“ durch das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (Holz & Puhlmann, 2005) eine Langzeitstudie vor, in der die Lebenslage der Kinder in Armutslagen im Vorschulund dann im Schulalter mit der Lebenslage von Kindern aus anderen Bevölkerungsgruppen verglichen wurde. Dabei wurde u. a. in 60 Kindertagesstätten in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt (AWO) die Lebenssituation von armen und nicht armen 6-jährigen Kindern untersucht. Es lagen Einschätzungen für 225 arme und 640 nicht arme Kinder durch die Erzieherinnen vor. Untersucht wurden die materielle Versorgung des Kindes (Wohnen, Nahrung, Kleidung, materielle Partizipationsmöglichkeiten), die Teilhabe an Bildungsangeboten (Lernund Erfahrungsmöglichkeiten, Ausbildung von Lernkompetenzen, Schulerfolg), die Situation im sozialen Bereich (soziale Kontakte und soziale Kompetenzen) und die psychische und physische Lage (Gesundheit und körperliche Entwicklung).

Die Studie belegt überproportionale Einschränkungen in der Grundversorgung bei Kindern aus armen Familien; so wird z. B. in 31 % (vs. 9 %) das Essensgeld im Kindergarten nicht regelmäßig gezahlt, in 27% (vs. 12%) können die Kosten für Ausflüge von den Eltern nicht beglichen werden. 16 % der armen Kinder (vs. 5 %) kommen öfters hungrig in die Einrichtung, 15 % (vs. 5 %) sind ungepflegt und körperlich vernachlässigt. 36% der armen Kinder (vs. 16 bis 18%) zeigen Auffälligkeiten im Spielund Sprachverhalten und suchen seltener den Kontakt zu anderen Kindern, nehmen weniger aktiv am Gruppengeschehen teil, äußern seltener ihre Wünsche und sind weniger wissbegierig als nicht arme Kinder. Ist ein armes Kind in mindestens zwei der untersuchten Bereiche eingeschränkt, liegt die Wahrscheinlichkeit des regulären Eintritts in die Regelschule nur noch bei 38 %. Als stärkster Einflussfaktor auf die Ausprägung dieser Auffälligkeiten erwies sich das Ausmaß der von der Familie gemeinsam durchgeführten Aktivitäten (als Indikator für die Zuwendung, die das Kind innerhalb der Familie erhält), als zweitstärkster Faktor das Einkommensniveau der Eltern.

36 % der armen Kinder (vs. 14 %) mussten nach diesen Untersuchungsergebnissen als „mehrfach depriviert“, d. h. in mehreren Bereichen benachteiligt, bezeichnet werden. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Kinder aus Familien mit ungesichertem Aufenthaltsstatus und Kinder, deren Eltern kein Deutsch sprechen, Kinder aus Familien, in denen die Väter arbeitslos sind, Kinder aus Familien mit drei und mehr Kindern und Kinder aus Ein-Eltern-Familien. Allerdings zeigt die Studie auch, dass etwa ein Viertel der armen Kinder im Vorschulalter von keiner Benachteiligung in den genannten Lebensbereichen betroffen ist. Ihre Familien zeichnen sich aus durch regelmäßige gemeinsame Aktivitäten, gutes Familienklima und Deutschkenntnisse mindestens eines Elternteils (bei Migrantenkindern). Ihre Eltern sind nicht überschuldet, die Wohnverhältnisse sind ausreichend.

Die Ergebnisse der nachfolgenden Untersuchung im Grundschulalter (im Alter von 10 Jahren) zeigten, dass sich die bereits im Vorschulalter erkennbaren Defizite massiv verfestigten. 17 % der untersuchten Familien lebten in anhaltender Armut. Für den schulischen Bereich ergab die Studie, dass knapp 30 % (vs. 8 %) der armen Kinder in der Grundschule mindestens einmal eine Klasse wiederholten. Dazu gehörten vor allem die Kinder, die bereits im Kindergarten im Sprachoder Arbeitsverhalten auffällig waren. Die Durchschnittsnoten der armen Kinder waren deutlich schlechter. Auch in dieser Studie zeigte sich ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und der wirtschaftlichen Lage der Eltern; aber selbst bei gleich schlechtem Bildungsniveau einer Mutter waren die Chancen für ein nicht armes Kindes, auf ein Gymnasium zu kommen, noch mehr als doppelt so gut als die Chancen für ein armes Kind. Insgesamt erreichten nur 20 % der Kinder mit Armutserfahrungen die Realschule, 12 % ein Gymnasium (Holz & Puhlmann, 2005).

2.3 Zusammenhangsmuster

Wie sich Armut auf Kinder und Jugendliche auswirkt, hängt maßgeblich von den Reaktionen der Eltern auf ihre Lebenssituation ab, die die familiären Beziehungen und Interaktionen und insbesondere das elterliche Erziehungsverhalten prägen. Vernachlässigung der kindlichen Bedürfnisse ist umso wahrscheinlicher, wenn lang anhaltende Spannungen und Konflikte in der Familie bestehen, evtl. begleitet von Trennung oder Scheidung, instabilen oder wechselnden Partnerbeziehungen, wirtschaftliche Krisensituationen auftreten, die das Selbstwertgefühl der Eltern beeinträchtigen, die Familie von ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft sozial isoliert ist, die Wohnverhältnisse ungünstig und beengt sind sowie ein gesellschaftliches Umfeld mit aggressiven Handlungen und Verhaltensmustern besteht.

Ein niedriger Bildungsstand der Eltern hat einen zusätzlichen Effekt im Sinne einer Risikokumulation. Ihre Kinder bekommen zu Hause nicht die gleichen Anregungen und Unterstützungen für das Lernen wie die Kinder von Eltern aus der Mitteloder Oberschicht. Ein Indikator für die Anregungen in der häuslichen Umgebung ist z. B. die Zahl der zu Hause vorhandenen Bücher, die Zeit, die im Vorschulalter mit Vorlesen verbracht wird, der Anregungsgehalt der verfügbaren Spielsachen oder die Zahl der gemeinsamen Ausflüge, die das Kind mit seiner Familie macht. Deutliche Schichtunterschiede machen sich auch in der Sprachentwicklung der Kinder bemerkbar. Kleinkinder aus „bildungsfernen“ Schichten hören nur einen Bruchteil der Wörter, den Kinder aus höheren Schichten von ihren Eltern zu hören bekommen. Ihr Wortschatz erweitert sich von den ersten Sprachentwicklungsstufen an langsamer als der Wortschatz von Kindern aus der Mitteloder Oberschicht (Hart & Risley, 1995; vgl. Abb. 3).

Eine mit sozioökonomischem Mangel verbundene Belastung der elterlichen Partnerschaft trägt über dysfunktionales Erziehungsverhalten insbesondere zur Ausbildung von sozialemotionalen Auffälligkeiten der Kinder bei. Erhöhte Reizbarkeit und Depressivität der Eltern lassen die Kinder weniger Unterstützung und Zuneigung erfahren und führen häufiger zu willkürlichen, strafenden Erziehungsmaßnahmen. Durch die Häufung von Alltagskonflikten kommt es dann zu einem Teufelskreis negativer Interaktionen und internalisierenden und externalisierenden Symptome der Kinder.

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