Die Mossdorfs - Das Schicksal einer Berliner Familie im 20. Jahrhundert

Die Mossdorfs - Das Schicksal einer Berliner Familie im 20. Jahrhundert

von: Friederike Oeschger, Babette Radtke

Hoffmann und Campe, 2014

ISBN: 9783455851281

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 3761 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Mossdorfs - Das Schicksal einer Berliner Familie im 20. Jahrhundert



Prolog Der Beginn einer Zeitreise


Die Nachricht kam am Morgen des 14. Mai 2002: Tante Rosi war in der Nacht in einem Berliner Krankenhaus an Altersschwäche gestorben. Ihre beiden Nichten in Hamburg und ihr Neffe in Berlin hatten sich in den Monaten davor intensiv um sie gekümmert. Die alte Dame war mehrfach zu Hause gestürzt, ganze Nächte hatte sie hilflos in ihrer Wohnung gelegen. Eine Nachbarin hatte morgens auf dem Balkon ihre Hilferufe gehört und die Feuerwehr alarmiert.

Neffe Richard Mossdorf und seine Schwestern Friederike Oeschger und Babette Radtke hatten beschlossen, ihre Tante in einem Pflegeheim unterzubringen. Ganz in der Nähe hatten sie ein angenehmes Haus gefunden, ein schönes Zimmer sollte mit liebgewonnenen Möbeln aus der Wohnung eingerichtet werden.

Als sie von den Plänen hörte, weigerte sich Rosemarie Mossdorf. Sie war 1925 in der Prinzregentenstraße 83 im Stadtteil Wilmersdorf geboren worden, in dem Haus, in das ihre Eltern 1912 gezogen waren. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte die promovierte Tierärztin in der herrschaftlichen 160 Quadratmeter großen Wohnung 26 Jahre allein gewohnt. Die »83«, wie das Haus in der Familie nur genannt wurde, war ihr Lebensmittelpunkt, ihr Kokon, der ihr Sicherheit bot; seit neunzig Jahren war an der Einrichtung fast nichts verändert worden war, alles war vertraut und voller Erinnerungen. Unmöglich dort auszuziehen. In einem einzigen Zimmer zu leben? Ausgeschlossen, lieber wolle sie sterben.

Ein Jahr zuvor hatte sie ihren 75. Geburtstag noch groß im noblen Tennisclub Rot-Weiß gefeiert, der rechte Ort für die ehemals passionierte Tennis- und Hockeyspielerin. Die ganze Familie war nach Berlin gekommen. Es wurden alte Geschichten erzählt. Etwa die, als Bruder Carl Friedrich Mossdorf 1935 als Vierzehnjähriger einen Aufsatz in Geschichte schreiben musste. Familienoberhaupt Otto Mossdorf, politischer Redakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung, las den Text und befand, das müsse von Grund auf neu geschrieben werden, und machte sich gleich selbst ans Werk. Carl Friedrich bekam dafür eine 5, damals die schlechteste Note. Vater Otto hielt sich fortan von den Schularbeiten seiner Kinder fern.

Und Friederike erzählte bei dem Geburtstag von den zahlreichen Weihnachtsabenden, zu denen sich die ganze Familie in der »83« traf. Das sei immer so spannend gewesen, denn zwischen Blauem Salon und dem Herrenzimmer gab es eine Schiebetür, die am 24. Dezember stets geschlossen war. Durch die matten Glasscheiben schimmerten die Kerzen des Weihnachtsbaums, und daneben meinte sie die Umrisse eines Schaukelpferdes zu erkennen, das sie sich so sehnlich wünschte, aber sie hatte sich jedes Mal getäuscht.

 

Nun war Rosemarie Mossdorf tot, und die »83« musste aufgegeben und geräumt werden. Liselotte Mossdorf, die Mutter von Richard, Friederike und Babette, hatte den Tag jahrelang kommen sehen und gesagt: »Mein Gott, Kinder, wenn ihr das mal auflösen müsst, das wird ja ganz gruselig. Was sich da seit 1912 alles angesammelt hat.«

Richard kümmerte sich um alle Formalitäten und um die Beerdigung. Friederike und Babette machten sich wenig später im Auto auf nach Berlin. Sie hatten verabredet, sich Zeit mit der Wohnung zu lassen. Drei, vier Tage hatten sie für die erste Bestandsaufnahme veranschlagt. Sie wollten in kein Hotel gehen, sondern in der »83« übernachten. Sie wollten noch einmal die Atmosphäre der Wohnung auf sich wirken lassen, in der sie als Kinder so oft gewesen waren, die über Jahrzehnte der Mittelpunkt der Familie gewesen war. Einen exakten Plan, wie sie vorgehen wollten, hatten sie nicht. Aber sie hatten grüne Klebepunkte eingepackt. Damit wollten sie Möbel, Bilder und alles markieren, was sie und ihr Bruder behalten wollten.

Die Tage in Berlin wurden zu einer Zeitreise mit immer neuen Überraschungen. So entdeckten sie im schmalen »Mädchenzimmer«, in dem früher die Dienstmädchen gewohnt hatten und in dem Tante Rosi in Mahagoni-Regalen ihre Akten lagerte, einen alten Notenschrank mit Rollladen. Er entpuppte sich als wahre Schatztruhe, voll mit Fotoalben, Urkunden, mit zahllosen Schreibmaschinenseiten und handschriftlichen Blättern und Büchern, mit Otto Mossdorfs Aufzeichnungen über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg in Frankreich, Polen und seine Zeit als Kriegsgefangener in Ostsibirien. Seine Berichte aus der Nachkriegszeit, seine Besuche bei Kaiser Wilhelm II., der nach seiner Abdankung im niederländischen Doorn im Exil lebte und dort als Herrscher ohne Land Hof hielt.

Welchen Schrank sie auch öffneten, welche Schublade sie aufzogen – alles war randvoll. Natürlich gab es auch viel zu entrümpeln. 37 große blaue Müllsäcke wurden mit der Zeit gefüllt. Die »83« war inzwischen zur Hälfte geräumt, ein Auktionator hatte die Wohnung besichtigt und mehrere Bilder mitgenommen, ein Teppichhändler war aus Hamburg angereist, hatte einige Stücke und eine Kaminuhr aus Meißner Porzellan ausgewählt, ein dickes Geldbündel aus der Tasche gezogen und bar bezahlt, ein pfiffiger Trödler hatte sich für Möbel und allerlei Hausrat interessiert. Nun saßen die beiden Schwestern nach dem Abendessen bei einem Glas Wein vor dem kleinen Damensekretär, der ihrer Urgroßmutter gehört hatte. Sie öffneten die Türen und Schubladen und fanden die Tagebücher, die ihre Großmutter Else Mossdorf, geborene Krause, als junges Mädchen geschrieben hatte, dazu Poesiealben und die Liebesbriefe ihrer Großeltern.

 

Sie hatten ihre Großmutter, die 1976 im Alter von 91 Jahren in der »83« gestorben war, nur als alte Dame kennengelernt, die immer große Hüte trug, ein wenig plump auf dem Sofa saß und so gar nicht dem Bild einer »Kuschel-Oma« entsprach. Jetzt begegneten sie Großmutter Else als lebenslustiger junger Frau, die Schlittschuh lief, gern ritt und tanzte, in feinen Restaurants mit jungen Offizieren Champagner trank, durch Europa reiste, das Leben genoss und sich unsterblich in den jungen Otto Mossdorf verliebte.

Auch der Schreibtisch von Großvater Otto war vollgestopft mit Akten und Briefen. Als sie schon glaubten, alles ausgeräumt zu haben, entdeckten sie an der Vorderfront noch ein Geheimfach, in dem mehr als zwanzig Tagebücher versteckt waren, mit kleiner, schwer lesbarer Schrift gefüllt.

Alles, was ihnen wichtig erschien, wurde in Umzugskartons verpackt, Fotoalben in den einen, Tagebücher in den anderen, Familienpapiere in einen dritten. Gesichtet, sortiert und ausgewertet werden sollte zu Hause. Dreimal waren die Schwestern in Berlin, jedes Mal kehrten sie mit einem bis unters Dach beladenen Auto nach Hamburg zurück. Friederike hatte im Kellergeschoss ihres Hauses Platz geschaffen, dort stapelte sich nun das Familienerbe.

Zunächst trafen sich die Schwestern mehrmals mit ihren Eltern, um sich gemeinsam die zahllosen Familienfotos anzusehen und die abgebildeten Personen zu identifizieren. Die Eltern von Großvater Otto Mossdorf – Hugo und Amalie Mossdorf, die Eltern seiner Frau Else – Richard und Rosa Krause. Die Geschwister ihrer Tante Rosemarie und ihres Vaters Carl Friedrich Mossdorf – Anne-Regine und Richard, die sie nie kennengelernt hatten, weil Anne-Regine 1942 mit 28 Jahren an einer Mandelentzündung gestorben und ihr Bruder Richard 1940 als einundzwanzigjähriger Soldat in Frankreich gefallen war. Dazu gab es Dutzende Fotos von Gütern und Landsitzen von Verwandten in Westpreußen, wo die Familie Sommerferien verbracht hatte, Bilder von Urlauben, Schiffsreisen. Fotos aus zwei Weltkriegen.

Die schriftlichen Hinterlassenschaften zu erschließen, war häufig noch viel schwieriger. Briefe und andere Dokumente waren von Hand geschrieben, in Sütterlinschrift. Es dauerte eine Weile, bis Babette diese Texte einigermaßen problemlos lesen konnte. Tage und Wochen verbrachten die Schwestern mit der Transkription, eine las vor, die andere tippte.

Ebenso aufwendig war es, die kleinen Notizbücher von Else Mossdorf, die Tagebücher, Feldpostbriefe und die zahlreichen Berichte von Otto Mossdorf über seine Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg zu sichten und aufzuarbeiten. Spannend war es, anhand von erhaltenen Geschenke-Listen und Tischordnungen nachzuvollziehen, wie Mossdorfs Familienfeste feierten und ihren Alltag gestalteten. In zahllosen Brieftelegrammen nachzulesen, wie es im Exil von Kaiser Wilhelm II. zuging, den Otto Mossdorf mehrfach in Doorn besuchte, um ihm Vorträge über die politische Lage in Ostasien zu halten. Als außenpolitischer Redakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung war dies sein Spezialgebiet. Die Dokumente berichteten von den Schicksalsschlägen, die die Familie getroffen hatten, und davon, wie die Mossdorfs auch schwere Zeiten überstanden hatten.

 

Vor den beiden Schwestern lagen Zeugnisse aus einem ganzen Jahrhundert. Sie waren einfach aufbewahrt worden und durch die Jahrzehnte erhalten geblieben. Auch die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg, in denen ganze Städte in Schutt und Asche versanken, hatten sie überstanden. Das Haus in der Prinzregentenstraße 83 war zwar von einer Brandbombe getroffen worden, aber das Feuer hatte schnell gelöscht werden können, der Schaden hielt sich in Grenzen. Von vielen Nachbarhäusern standen nur noch Ruinen.

Hier war die Geschichte einer Berliner Familie über ein Jahrhundert...

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