Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe

Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe

von: Joyce Carol Oates

Carl Hanser Verlag München, 2014

ISBN: 9783446247062

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 3601 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe



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GUTE NACHRICHTEN, FORTSETZUNG!


Diese fantastische Woche!

Zuerst erfuhr Merissa, dass Mr Trocchi, der Leiter der Theater-AG, sie für die begehrte Rolle der Elizabeth Bennet in einer Bühnenadaption von Jane Austens Stolz und Vorurteil ausgewählt hatte – »Du triffst Austens unverwechselbare Mischung aus beißendem Humor und moralischem Ernst wirklich gut, Merissa. Glückwunsch!«

(Schwer, darüber hinwegzusehen, dass Brooke Kramer in den folgenden Tagen gekränkt und verkniffen aussah, wenn sie ihr über den Weg lief – denn Brooke, seit der neunten Klasse Mitwirkende in zahlreichen Schulproduktionen, hatte ebenfalls für die Rolle vorgesprochen und war bitter enttäuscht, gegenüber Merissa Carmichael den Kürzeren zu ziehen, die ihrer Ansicht nach längst nicht so gut spielte wie sie.)

Am nächsten Tag, Mathekurs! In dem Mr Doerr beim Zurückgeben der Tests von letzter Woche in seiner grimmig-trockenen Art bemerkte, Merissa Carmichael habe ihr Geschlecht in Sachen Mathe »errettet«, denn sie hatte 96 Prozent, mehr als jeder andere Schüler, außer natürlich Virgil Nagy mit seinen gewohnten 100 Prozent.

(Schwer, darüber hinwegzusehen, dass sich auf Shaun Ryans Gesicht Enttäuschung und Scham breitmachten, als Mr Doerr ihm seinen Test zurückgab; und dass Shaun am Ende des Kurses nicht mit ihr den Raum verließ, sondern sie ignorierte und ein Stück zurückblieb, um mit einem anderen Schüler, der in dem Test offenbar auch nicht so gut abgeschnitten hatte, hämische Witze zu reißen.)

Am nächsten Tag, Treffen der Jahrbuchredaktion des Abschlussjahrgangs! Aus irgendeinem Grund erwies es sich als das produktivste Gruppentreffen des Herbstsemesters: Alex Wren, Chefredakteur, hatte keine seiner sarkastischen Launen, sondern war lustig, charmant und flirtete mit Merissa, obwohl sie ihn in Trocchis Mathetest »um 10 Punkte übertroffen« hatte. Dana Crowley, die Leiterin des Projekts und Englisch-/Journalismus-Lehrerin, blieb nur kurz da und mischte sich nicht auf ihre gewohnt freundlich-rechthaberische Art ein, die alle hinter ihrem Rücken heimlich die Augen verdrehen ließ. Und der schöne Coverentwurf, an dem Merissa und Chloe viele Stunden lang gearbeitet hatten – Farbe, Layout, Schrifttype –, wurde mit einhelliger Begeisterung angenommen.

(»Was sie wohl sagen werden«, meinte Merissa zu Chloe, »wenn wir in der Danksagung für die Covergestaltung Tink, Inc. angeben?« Die Mädchen lachten nervös. Denn fast sechs Monate nach Tinks T?d war das Thema Tink Traumer an der Quaker Heights Day School noch immer brisant. Der Entwurf, den die anderen in der Gruppe so bewundert hatten, enthielt ein herrlich strahlendes Foto des Sternbilds Orion aus Tinks Nachthimmel-Serie, in das auf geniale Weise die länglichen Buchstaben

QAKERHEIGHTSYEAR ’12

eingefügt waren. Die Wirkung war bombastisch und spannend. Chloe sagte mit gesenkter Stimme: »Meinst du, Tink ist dort?« – womit sie den Nachthimmel auf dem Foto meinte; und Merissa erwiderte schnell und mit abgewandtem Blick: »Nein. Tink ist hier.«)

Das waren die Ereignisse vom Montag, Dienstag, Mittwoch. Und dann kam am Mittwoch noch der (dicke) Zulassungsbrief der Brown University, adressiert an Merissa Carmichael, 18 West Brook Way, Quaker Heights, New Jersey, während sie in der Schule war.

(Obwohl Merissa ihre Mutter gebeten hatte, ihre Post bittebittebitte nicht zu öffnen und sich die Verletzung ihrer »Privatsphäre« verbeten hatte, konnte Mrs Carmichael nicht widerstehen, den Umschlag noch auf der Vordertreppe aufzureißen, nachdem sie ihn aus dem Briefkasten geholt hatte. Seit Monaten hatten die Carmichaels fast ausschließlich über Merissas Collegebewerbung geredet, und ihr Vater, der in Dartmouth studiert hatte, wünschte sich für seine Tochter nichts sehnlicher als die Aufnahme an einer »führenden« Elite-Uni.)

Dann, Donnerstag: als Merissa (erstens) erfuhr, dass ein Aufsatz, den sie für Mr Kesslers Naturwissenschaftskurs geschrieben hatte – »Unsere Umwelt und wir« –, den dritten Platz in einem von Scientific American gesponserten Highschool-Wettbewerb belegt hatte, zu dessen Teilnahme Mr Kessler sie ermutigt hatte, und der auf der Website der Zeitschrift veröffentlicht werden sollte; und (zweitens) das Hockeyteam, in dem Merissa gewöhnlich nur eine durchschnittlich-bis-gute Spielerin war, gegen das besser platzierte Team der Lawrence gewann, und das nicht zuletzt durch ihr geschicktes Abblocken der Starspielerin im Lawrence-Team (auch wenn Merissa sich hinterher über ihr Humpeln lustig machte und behauptete, es tue gar nicht weh, nachdem die wütende Lawrence-Spielerin ihr den Hockeyschläger an den Knöchel geknallt hatte).

Außerdem am Donnerstag: Infolge der guten Nachricht von der Brown University, die sich schnell herumgesprochen hatte, beglückwünschten sie mehrere Schüler des Abschlussjahrgangs, die ebenfalls einen Studienplatz an der Harvard, Princeton, Yale oder Brown bekommen hatten – obwohl es keine engen Freunde von ihr waren, sondern Schüler, die sie größtenteils mochte und bewunderte.

(Nur dass es Merissa unangenehm war, wenn sie die anderen prahlen hörte, dass sie jetzt zur Elite gehörten.)

(Nur dass es sie beunruhigte, dass Shaun Ryan ihr aus dem Weg ging – mittlerweile war das unübersehbar. Und nicht nur Shaun, auch andere Jungen, die sich an der Brown beworben hatten.)

Dann, Freitag: Merissas Referat im Englisch-Leistungskurs, eine kritische Analyse von Dostojewskis Roman Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, löste eine lebhafte Diskussion aus – Gibt es so etwas wie ein Kellerwesen, das in unserem Inneren wohnt und unser (»Tageslicht«-)Ich bestimmt, auch wenn wir es nicht kennen? Gibt es eine Möglichkeit, dieses Wesen zu entdecken? – und brachte ihr ein A-plus von Mrs Conway ein.

(Was jedoch seltsam war: Als Merissa ihren Vortrag im Englisch-Seminarraum beendet hatte, wo Schüler und Lehrer kameradschaftlich an einem ovalen Tisch saßen, schlug ihr Herz schnell und leicht wie ein flatternder Schmetterling, gefangen in einem kleinen Raum, und ihre Achselhöhlen juckten, und auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß! Ihre Freundinnen Chloe und Hannah – und Anita Chang, eine eher sporadische Freundin, der man nicht gern den Rücken zukehrte, weil man befürchten musste, dass sie etwas Gemeines über einen sagte, und Gordy Squires, Virgil Nagy und Alex Wren – sie alle starrten Merissa einen langen, peinlichen Augenblick lang an, bis jemand sagte: »Wahnsinn, Merissa! Wow.«)

Hey! Nicht schlecht, Meris.

Tink pikste Merissa in die Rippen. Und da Merissa nicht viel Fleisch auf den Rippen hatte, tat der Pikser weh.

Freu dich, Meris. Solange sie dich benoten, sind Noten was Gutes.

Tinks warmer Atem in ihrem Ohr ließ Merissa die feinen Härchen im Nacken zu Berge stehen.

Tinks besonderer Duft – nach verbrannten Nelken und rot versengtem Haar, darunter ein salzig-säuerliches Aroma.

Hauptsache ist, du freust dich, Kumpel. Enttäusche mich nicht, ich brauche meine Freundin.

War Tink ehrlich? Oder machte sie sich lustig?

Oder hatte sie eine ihrer boshaft-gemeinen Launen, bei denen man nicht genau wusste, ob sie mit einem lachte oder einen auslachte. Man konnte Tink Traumer nicht trauen, als sie noch lebte, wie sollte man ihr dann jetzt trauen, wo sie im Jenseits war?

»Heute hab ich von Tink gehört.«

Merissa redete leise. Damit Hannah, wenn sie es überhören wollte, nicht reagieren musste.

Aber Chloe atmete erschrocken ein – »Ohhh! Ich g-glaube, ich auch.«

Mit gedämpften Stimmen unterhielten sich die Mädchen. Sie lehnten an Chloes offenem Schließfach vor Mrs Crowleys Klassenzimmer, eine kleine Oase der Ruhe und Abgeschiedenheit inmitten des Lärms auf dem Flur. Sie standen dicht zusammen, mit dem Rücken zu den anderen, und hofften, dass niemand es wagen würde – auch keine ihrer engen Freundinnen –, sich einzumischen.

Chloe sagte: »Ich-ich-ich war mir nicht sicher, ob es wirklich Tink ist … Als ich heute früh bei mir zu Hause die Treppe runterging, war ich irgendwie, ich weiß nicht – traurig. Meine Mutter schrie wegen irgendwas in der Küche herum – ich glaube, sie hat mit meinem Bruder geschimpft. Er hatte mit seinen Turnschuhen Dreck ins Haus gebracht, es sah aus, als würden überall kleine Scheißhaufen herumliegen – und plötzlich überkam mich so ein komisches Gefühl …«

Merissa wartete. Sie kannte dieses Gefühl sehr genau.

»Und da hab ich mich gefragt, ob ich das den Rest meines Lebens, ihr wisst schon – durchstehe – aber ich meinte das natürlich nicht ernst«, sagte Chloe schnell und lachte, »nicht so wie Tink … Und im selben Moment war da so ein warmes, pelziges Gefühl, wie ein Katzenfell an meinem Gesicht – genauso hat Tinks Haar gerochen oder ihre Haut – so ein Geruch nach etwas Versengtem. Gesagt hat sie nichts, nur irgendwie gelacht, aber nicht bösartig – sie hat gelacht, weil ich so dumm bin und so viel Wind um … um alles mache. Und plötzlich ging es mir besser. Ich weiß nicht, warum – alles war wie vorher –, trotzdem ging es mir viel besser. Ich glaube, das war Tink.« Chloe verstummte und wischte sich über die Augen. »Was hat Tink zu dir gesagt?«

Merissa konnte sich nur an eines erinnern: Freu dich.

Freu dich – Kumpel?

Merissa lachte. Es war typisch für Tink, dass sie »Kumpel« sagte – sie parodierte...

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