Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

von: Jesper Juul

Gräfe und Unzer Autorenverlag, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2012

ISBN: 9783833832673

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 2261 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen



Integrität


… heißt, zu sich selbst Ja zu sagen – und auch mal Nein zu Wünschen anderer

Die eigene Persönlichkeit wahren


Ich erlebe bei vielen Paaren, die in meine Beratung kommen, dass ein Elternteil versucht in der Familie einen Konsens herzustellen. Aus diesem Grund ist er bereit, schnell nachzugeben und vieles mitzumachen, obwohl seine eigenen Grenzen dabei überschritten und seine Bedürfnisse missachtet werden. Wer jedoch zu häufig seine Integrität verliert und »Ja« sagt, wo er eigentlich »Nein« meint, erlebt Liebe schnell als Gefängnis und Familie als erdrückend. Ich bin davon überzeugt, dass eine Gemeinschaft umso stärker ist, je stärker jeder Einzelne sich als Individuum definiert. Das heißt, je genauer er weiß, was er will oder nicht will, und dies auch deutlich ausdrücken kann. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Denn seine Bedürfnisse zu äußern bedeutet nicht, sie um jeden Preis durchsetzen zu wollen oder zu erwarten, dass sie erfüllt werden. Es ist vielmehr der Einstieg, um anderen zu begegnen und sich mit deren Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

In jeder Familie treffen Unterschiede aufeinander. Jeder Einzelne, ob groß oder klein, ist ein Individuum mit eigenen Bedürfnissen, die gesehen werden wollen. Das anzuerkennen ist für viele Eltern schwer, weil sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht lernen konnten, ihre Integrität zu wahren. Schließlich wurden die physischen und psychischen Grenzen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen über Jahrhunderte hinweg systematisch missachtet. Um geliebt zu werden, wurde von ihnen erwartet, die eigene Individualität zu unterdrücken und gehorsam das zu tun, was die Eltern forderten.

Ein solches Verhalten wurde noch vor nicht allzu langer Zeit als richtig und notwendig angesehen. Und noch heute spuken meiner Meinung nach einige dieser Gedanken in den Köpfen moderner Eltern herum. Sie haben schließlich selbst gelernt zu kooperieren, wie es alle Kinder machen, um von ihren Eltern geliebt zu werden:

Kinder sind bereit, sich anzupassen und alles zu tun, was von ihnen gefordert wird. Dabei übersehen Eltern oft die Signale des Unwohlseins, die ihre Kinder dabei aussenden und die sich in diversen Symptomen zeigen können. Wenn Kinder dauernd entgegen ihren wahren Bedürfnissen kooperieren, kann dies entweder zu selbstzerstörerischem Verhalten führen, das sich zum Beispiel in Form von Bauchschmerzen oder Essstörungen äußert (wie der erste Elternbrief sehr gut zeigt), oder sie stellen die Kooperation ein und werden aus Sicht der Erwachsenen »schwierig«.

Als Erwachsene müssen wir die volle Verantwortung für unser Handeln übernehmen und deshalb unser Verhalten immer wieder kritisch überprüfen. Es hilft niemandem, wenn wir die Führungsrolle abgeben und zu allem »Ja« sagen. Ein »Ja« ist Kindern immer willkommen. Ein »Nein«, auch ein freundliches, frustriert dagegen und macht traurig oder wütend, sodass es je nach Temperament des Kindes durchaus zu einer anstrengenden Szene kommen kann. Doch da müssen alle Beteiligten durch, denn nur so lernen Kinder mit der Zeit mit einem »Nein« umzugehen. Es ist eine elementare Lebenserfahrung, die sie dringend brauchen, um später, auch nach Niederlagen und Schicksalsschlägen, wieder aufstehen zu können. Es nützt jedoch genauso wenig, ein nicht verhandelbares »Nein« um jeden Preis durchdrücken zu wollen.

Integrität in der Familie bedeutet, dass Eltern, statt Grenzen für ihre Kinder zu definieren, ihre eigenen Grenzen aufzeigen, zum Beispiel: »Mir ist die Musik zu laut, bitte mach sie leiser« anstatt: »Mach sofort das Handy leiser, sonst kommt es weg!« So kann schließlich ein Miteinander in der Familie entstehen, in dem sich Kinder geliebt und respektiert zugleich fühlen.

Kinder und Stress


Ich habe in der Zeitung erst kürzlich eine Reihe von Artikeln über Kinder und Stress gelesen. Ich bin Vollzeit berufstätig und erziehe meine 10-jährige Tochter allein. Sie musste schon früh selbstständig werden, da ich morgens nicht so lange zu Hause bleiben kann, dass ich sie wecken, mit ihr frühstücken oder darauf achten kann, dass sie ordentlich angezogen ist, wie das bei anderen Kindern aus ihrem Freundeskreis der Fall ist. Ich rufe sie dann aus der Arbeit an und vergewissere mich, dass sie auch aufgestanden ist und gefrühstückt hat.

Schon seit einem Jahr leidet Sandra häufig an Bauchschmerzen, die manchmal so heftig sind, dass sie aus der Schule nach Hause geschickt wird. In letzter Zeit sind sie so schlimm geworden, dass der Verdacht auf Blinddarmentzündung bestand. Doch Sandras Kinderarzt meint, dass ihre Probleme keinerlei organische Ursachen haben. Nachdem ich nun die Artikel in der Zeitung gelesen habe, mache ich mir große Sorgen, dass Sandra unter Stress steht und mein Lebensstil die Ursache für ihre häufigen Bauchschmerzen ist. Ich weiß aber nicht, wie ich daran etwas ändern soll – schließlich muss ich doch Geld verdienen und für uns beide sorgen. Da sehe ich wirklich keine Alternative. Leider zehren die viele Arbeit und mein ständiges schlechtes Gewissen, dass ich zu wenig Zeit für meine Tochter habe, auch an meiner Gesundheit und meinen Nerven. Am Wochenende bin ich oft so erschöpft, dass ich keine Geduld habe und schnell zu schimpfen anfange, wenn Sandra trödelt und nicht so mitmacht, wie ich mir das vorstelle. Mir wird alles zu viel, schließlich bleibt ja kaum mehr Zeit für mich selbst oder für Freunde. Ich habe Angst, dass ich alles falsch mache, und weiß keinen Ausweg. Was soll ich bloß tun, damit es meiner Tochter wieder besser geht und wir ein entspannteres Miteinander haben?

Eine verzweifelte, gestresste Mutter

Antwort von Jesper Juul:

Lassen Sie mich zunächst einmal damit beginnen, dass Ihre Tochter mit ihren psychosomatischen Bauchschmerzen nicht allein dasteht. Immer mehr Kinder leiden unter Stresssymptomen. Die häufigsten sind Kopf-, Muskel-, Bauchund Gelenkschmerzen, Schwindelanfälle und Sehstörungen. Doch ehe es so weit kommt, bemerken wir oft eine scheinbar unerklärliche Aggressivität und Reizbarkeit, verminderten oder stark erhöhten Appetit, »Trotz« und Starrsinn sowie Kinder, die plötzlich »Nein«! sagen, wo sie früher kooperiert haben. Noch früher beginnt der Energielevel der Kinder spürbar zu sinken.

Kinder reagieren also genauso wie Erwachsene und auch aus demselben Grund: Es ist zu einem chronischen Ungleichgewicht gekommen zwischen ihren eigenen Grenzen und Bedürfnissen und ihrem Drang, mit dem Verhalten der Eltern sowie den Forderungen und Erwartungen ihrer Umwelt zu kooperieren. Geschieht dies über einen längeren Zeitraum hinweg, machen sich die voraussagbaren Signale und Symptome bemerkbar, die hier beschrieben werden.

Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie eine existenzielle Entscheidung treffen müssen: Ihren bisherigen Lebensstil fortzusetzen oder diesen zu ändern. Wenn Sie ihn fortsetzen – das ist ja immerhin eine der beiden möglichen Alternativen, für die Sie die Verantwortung übernehmen können –, müssen Sie sich darauf einstellen, nicht nur die Verantwortung für die körperliche und seelische Gesundheit Ihrer Tochter zu übernehmen, sondern auch für die Belastung Ihrer wechselseitigen Beziehung. Hinzu kommen noch die Auswirkungen auf Ihre eigene Gesundheit, die sich auf längere Sicht garantiert einstellen werden. Mit anderen Worten: Wollen Sie konform handeln oder Ihre Integrität wahren?

Ein Teil Ihres Dilemmas besteht darin, dass Sie selbst in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die besonders bei Kindern und Jugendlichen in erster Linie auf Konformität setzt und Menschen, die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, als anstrengend empfindet. Abgesehen von der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, die womöglich große soziale und ökonomische Veränderungen mit sich bringt, müssen Sie nun auch die Werte infrage stellen, die Ihre Kindheit und Jugend geprägt haben.

Die öffentliche Debatte um »Kinder und Stress« ist meiner Meinung nach jahrelang zu eindimensional geführt worden. Man hat den Eltern vorgeworfen, sie seien zu viel mit Beruf und Karriere beschäftigt und nähmen sich zu wenig Zeit (das magische Wort) für ihre Kinder, oder sie machten ihre Kinder zu einem ehrgeizigen Projekt und stellten zu hohe Anforderungen an schulische Leistungen und Freizeitaktivitäten. Viele Eltern haben sich von diesem Vorwurf sehr unter Druck gesetzt gefühlt (Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen sind, wie Sie ja selbst bereits festgestellt haben, bedeutsame Stressfaktoren).

Doch ist das Phänomen sehr viel komplexer, als die meisten glauben, und es scheint äußerst zweifelhaft, jemandem dafür die »Schuld« in die Schuhe zu schieben. In der Terminologie meines Fachs wird Stress als »systemisches Phänomen« bezeichnet. Das bedeutet, dass die Mitglieder der Gesellschaft, in der dieses Problem kursiert, sich sehr dafür einsetzen müssen, sich nicht anstecken zu lassen. Das gilt sowohl für private Gemeinschaften wie Familien und Freundeskreise als auch für die Arbeitswelt oder die Gesellschaft im Allgemeinen. Niemand kann sich dem Einfluss dieses Phänomens vollkommen entziehen, doch manche werden stärker beeinflusst als andere und beeinflussen dadurch auch ihr persönliches Umfeld.

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