In ewiger Ruhe - Thriller

In ewiger Ruhe - Thriller

von: Stuart Neville

Aufbau Verlag, 2015

ISBN: 9783841208941

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 4769 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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In ewiger Ruhe - Thriller



1


Raymond Drew wollte am Treidelpfad sterben. Auch wenn es keine Sonne und keinen blauen Himmel gab, unter denen er sein Leben hätte beenden können – es sollte am Fluss sein. Dass der Boden vom Regen aufgeweicht wäre, würde ihn kaum kümmern, wenn er zusammenbrach.

Am liebsten wollte er tot ins Wasser fallen, sofern er es schaffte. So konnte er sicher sein, dass es auch funktionierte. Undenkbar, zu überleben und im Krankenhaus zu landen. Man würde seine Familie informieren, falls man das so nennen konnte, und seine Schwester Ida würde sein Haus betreten.

Was sie dort vorfand 

Er hätte das alles vernichten sollen, nur fehlte ihm die Kraft, diese Strapaze und alles, was damit zusammenhing, durchzustehen. Es war leichter, einfach zu sterben. Wenigstens musste er sich dann nicht mehr für all die schrecklichen Dinge verantworten, die herauskommen würden, wenn man den wahren Raymond Drew entdeckte. Jene Kreatur, die sich mehr als sechs Jahrzehnte in dieser menschlichen Haut versteckt hatte.

Raymond verschloss die Eingangstür seiner Doppelhaushälfte in Deramore Gardens, in der er seit dreißig Jahren wohnte. Es war eines von vielen gleichaussehenden Rotklinkergebäuden in der Straße; erbaut zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und genau die Art von Haus, um die sich Mittelklassepärchen und Investoren gerissen hatten, vor der Finanzkrise. Die ersten zwei Jahre hatte Raymond hier mit einer Frau zusammengelebt, die er kaum gekannt, geschweige denn geliebt hatte. Sie war längst tot und begraben und hatte ihm keine einzige Sekunde gefehlt.

Er schob die Schlüssel in seine Tasche und zog das Gartentor hinter sich zu. Sein Rasen sah aus wie die Stoppeln am Kinn eines Säufers. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr selbst gemäht. Der Bewohner der anderen Doppelhaushälfte, ein gewisser Hughes, hatte es aufgegeben, Raymond darum zu bitten, und erledigte das alle paar Wochen selbst. Im Frühling würde der Rasen wieder anfangen zu sprießen.

Das kümmerte Raymond jetzt nicht mehr.

Er ließ seinen Wagen an der Straße stehen und ging zu Fuß. Den Vauxhall Corsa hatte er seit Monaten nicht mehr gefahren. Er war nicht mehr angemeldet, die technische Prüfung war überfällig.

Er brauchte nur ein paar Minuten von der sanft abfallenden Sunnyside Street, vorbei an den Eckläden und den chinesischen Schnellrestaurants, bis zum Annadale-Damm. Er vermied jeden Augenkontakt mit den Studenten und den Hausfrauen, denen er unterwegs begegnete. An der Brücke beim Fluss wartete er am Fußgängerüberweg, bis das grüne Männchen aufleuchtete und ihn aufforderte weiterzugehen. Wie ein folgsamer Junge. Raymond hatte schon vor langer Zeit gelernt, ein braver Junge zu sein, sich ruhig und respektvoll zu verhalten und alle Regeln zu befolgen, wenn er sein Haus verließ. Nur nicht auffallen.

Nachdem er das dunkle, langsam fließende Gewässer in Richtung Stranmillis überquert hatte, ging er in südlicher Richtung unter den dürren Ästen der immer noch winterlich kahlen Bäume am Flussufer entlang. Vorbei am kürzlich wieder aufgebauten Lyric-Theater und den Apartmenthäusern mit Blick aufs Wasser, die sich daran anschlossen. Rechts von ihm dröhnte der Verkehrslärm der Autos, Lieferwagen und LKW, die stadtein- und -auswärts in Richtung Norden oder Osten unterwegs waren.

Die Schwellung in seiner Brust raubte ihm fast den Atem. Dennoch verlangsamte er sein Tempo nicht, nicht einmal, als ihm der Schweiß von den Augenbrauen tropfte. Er lief ihm kalt über den Rücken, und er bekam eine Gänsehaut.

Vor zwei Monaten war Raymond zu einer Ärztin gegangen, einer ernsthaften jungen Frau mit sanfter Stimme, die über Medikation geredet hatte, über Pillen und wie man dem ermüdeten Muskel in seiner Brust helfen könnte. Sie wollte weitere Untersuchungen, Blutentnahmen, wollte ihm Drähte auf die Haut kleben und einen Spezialisten vom Royal Victoria Hospital hinzuziehen.

Ihr Zustand ist ernst, hatte die junge Ärztin gesagt. Und es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Herzinfarkt komme. Es könnte sogar ein richtig heftiger sein. Sie hatten weitere Termine vereinbart, und sie hatte ihm ein auf gemustertes Papier gedrucktes Rezept mitgegeben.

Raymond erschien weder zu den vereinbarten Terminen, noch löste er das Rezept ein. Er hatte einfach nur Bescheid wissen wollen.

Seit einem Monat wurde das Flattern in der Brust heftiger. Dann kamen die Schwindelanfälle, kalte Schweißausbrüche und das Gefühl, als würde sein Oberkörper von einer unsichtbaren Hand zusammengequetscht. Nachts wachte er auf und rang nach Luft, wenn wilde Pferde durch seinen Brustkorb zu galoppieren schienen.

Es war nur eine Frage der Zeit.

Er fröstelte unter dem kalten Schweiß auf seiner Stirn. Seine Knie gaben nach. Er stützte sich auf das Geländer und wartete, während das Blut durch seinen Körper rauschte.

Vor ihm, direkt am Ufer, lag eine armselige Gastwirtschaft im Nebel. Tische, Bänke und Schirme standen draußen in der Feuchtigkeit. Ein Drink. Ein letzter Schluck, nur um sich zu vergewissern, dass alles seinen Gang ging.

Raymond betrat den Pub. Die einzigen anderen Gäste waren ein paar Geschäftsleute, die bei einer Tasse Kaffee Tabellen verglichen. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Das Mädchen hinter dem Tresen schon.

Er kam näher. Die junge Frau lächelte. Sie hatte die blonden Haare zurückgebunden und trug eine schwarze Hose und eine Bluse, die ihre Figur betonte. Einen Moment lang sah er sie nur an und ließ die Zungenspitze über seine Zähne streichen.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie.

Sie war Ausländerin. Osteuropäisch.

Raymond war mehr als einmal in Osteuropa gewesen. Schon bevor die Russen ihren Einfluss verloren hatten. Er hatte dort so manches probiert. Dinge, die nur wenige Männer je kosteten.

Er wollte antworten, aber seine Kehle und die Zunge gehorchten ihm nicht. Ein Schweißtropfen lief langsam an seiner Wange herunter. In seinem Schädel pochte es.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die Kellnerin. »Brauchen Sie Hilfe?«

»Whiskey«, sagte er mit brüchiger Stimme.

Sie zögerte. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine feine Falte. »Bush, Jameson, Jack Daniel’s?«

»Black Bush«, antwortete er. »Einen doppelten. Ohne Wasser.«

Sie brachte ihm den Drink in einem Tumbler. Die Flüssigkeit schimmerte bernsteinfarben und schwappte leicht im Glas, als sie es auf den Tresen stellte.

Ihm schoss ein verstörender Gedanke durch den Kopf und löste einen Anfall schwindelerregender Panik aus. Hatte er überhaupt Geld dabei? Raymond prüfte mit wachsender Furcht sofort jede Tasche, bis seine Fingerspitzen in seiner Gesäßtasche Leder berührten. Er zog die Börse heraus, öffnete sie und seufzte erleichtert, als er eine Zwanzigpfundnote entdeckte. Er reichte sie dem Mädchen.

»Behalten Sie …« Seine Lungen wollten nicht mehr. Er holte noch einmal so viel Luft, wie es nur ging. »Behalten Sie das Wechselgeld.«

Die Frau lächelte kurz, aber dann wurde ihre Miene sofort besorgt. »Sind Sie krank?«, fragte sie. »Brauchen Sie einen Arzt?«

Raymond schüttelte nur den Kopf, um keinen Atem zu verschwenden. Er ging mit dem Glas zum entferntesten Tisch und legte unterwegs Pausen ein, wenn ihn ein Schwindelanfall dazu zwang. Er hob das Glas, roch den erdigen warmen Torf, den süßen Karamell und die Gewürze. Dann brannte der Schnaps in seiner Kehle und hinterließ einen Nachgeschmack von Anis.

Als er dasaß und an dem Drink nippte, spürte er, wie sich der Schmerz in seinem linken Arm zusammenballte. Er zog über seine Schultern den Hals hinauf und hämmerte schließlich in seinem Schädel. Er umklammerte die Tischkante.

Nicht hier. Nicht hier.

Raymond kippte den restlichen Whiskey in einem Zug herunter und wartete, bis das Flimmern der Sterne hinter seinen Augenlidern verblasste.

Das Mädchen näherte sich. »Sir? Ich kann Ihnen einen Arzt rufen.«

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zum Ausgang, wobei ihn eher sein Schwung vorwärtstrieb als die Kraft seiner Beine. Draußen schlug er wieder die Richtung zum Treidelpfad ein.

Hier?

Zu nahe am Pub und den Häusern. Eine halbe Meile weiter flussabwärts hinter dem Bootsclub gab es keine Häuser mehr, dort säumten nur noch Gras und Bäume das Ufer.

Eine neue Schmerzattacke schoss von seinem Arm bis ins Gehirn. Stärker als die vorige.

Geh. Jesus Christus. Geh!

Seine Beine gehorchten.

Die Zeit schien zu wabern und zu bröckeln. Graue Häuser wurden vom Grün verdrängt. Die Zivilisation verschwand in der Ferne. Nichts blieb, außer der unbefestigte Weg und das Rauschen des Windes in den Blättern.

Eine Frau mit Hund. Der Hund schnüffelte, als er vorbeiging und jaulte, als er den Tod an ihm witterte. Seinen. Und den der anderen.

Ein Radfahrer mit einem Helm auf dem Kopf geriet ins Schlingern, als er ihm ausweichen musste, weil er torkelte.

»Verdammt noch mal, passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«, schrie ihm der Radfahrer im Weiterfahren zu.

Raymond ignorierte ihn.

Er ging vom Kiesweg hinunter zum Rasen und dem Gebüsch am Uferrand. Seine Schuhe versanken im Morast. Die kalte Nässe traktierte seine Füße wie mit spitzen Nadeln. Der Fluss strömte, vom Regen angeschwollen, an ihm vorbei.

»Gott, lass es das jetzt gewesen sein«, sagte Raymond.

Er lachte über die Sinnlosigkeit seines Gebets. Gott und er gingen schon seit einem halben Menschenleben getrennte Wege.

Er grub die Hände in die Taschen. Seine Fingerspitzen waren schon ganz taub. Die Schlüssel hatten sich an einem Faden verhakt. Er zog...

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