Aufgestanden, ausgerissen, frei! - Jugendroman

Aufgestanden, ausgerissen, frei! - Jugendroman

von: Tina Ott

Gmeiner-Verlag, 2015

ISBN: 9783734992865

Sprache: Deutsch

331 Seiten, Download: 2001 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Aufgestanden, ausgerissen, frei! - Jugendroman



19. Kapitel


Am nächsten Tag kam Pollo eher nach Hause, weil die letzten beiden Schulstunden ausfielen. Mittlerweile fuhr er wieder mit dem Rad. Bevor er die letzte Kurve nahm, hörte er schon den Kompressor und kurz darauf den Abbauhammer. Jakob! Schon wieder!

»Wie lang geht denn das noch so?«, fragte die Nachbarin vorwurfsvoll.

Pollo zuckte mit den Achseln. Über der Lärmquelle stand eine Staubwolke, die sich auf dem Bambus und den Blättern des Apfelbaums niederließ. Pollo konnte Jakob wegen der Hecke nicht sehen, hatte aber plötzlich eine böse Vorahnung. Er bog in die Einfahrt ein und tatsächlich: Jakob hielt die lärmende Maschine in der Hand und trieb sie in die Mauern des Pizzaofens.

»Nein!«, schrie Pollo. Jakob hörte nichts; er hatte einen Gehörschutz auf. Pollo ließ sein Rad fallen und rannte auf Jakob zu. Mit der Faust schlug er ihm auf den Rücken und schrie: »Hör auf! Aus!«

Sofort verstummte die Maschine. Jakob fuhr herum. »Spinnst du? Mich so zu erschrecken! Tu das nie wieder! Was glaubst du, was da passieren kann!«

Pollo stand keuchend vor ihm, beide Hände zu Fäusten geballt. »Das machst du nicht, verdammt!«, brüllte Pollo und zeigte auf den kümmerlichen Rest des Ofens.

Jakob starrte ihn ungläubig an. Seine Haare, Wimpern, Augenbrauen und sein Bart waren mit Staub verklebt. Langsam nahm er den Gehörschutz ab und fragte betont ruhig und leise: »Wie redest du mit mir, Markus? Drehst du jetzt komplett durch?«

»Der gehört meinem Vater!« Pollo liefen heiße Tränen über die Wangen.

»Aber der ist weg, Markus!« Jakob lächelte hämisch. »Das wirst du wohl langsam akzeptieren müssen.«

Die Worte ließen Pollo zusammensinken, als hätte er einen Tritt in die Kniekehlen bekommen. Er kniete sich in den Schutt und schichtete herausgebrochene Steine wieder auf die Ruine. Obwohl er sich vor Jakob keine Blöße geben wollte, fing er an zu schluchzen.

»Komm, mach dich nicht lächerlich!«, sagte Jakob und griff ihm von hinten unter die Arme, um ihn hochzuziehen.

»Fass’ mich nicht an!« Pollo richtete sich mit einem Ruck auf und warf mit Schwung einen Mörtelbrocken gegen die Haustür. Jakob hatte sie vor Kurzem abgeschliffen und gestrichen. Er wollte Jakob treffen, ihn verletzen, oder noch besser: ihn dazu bringen, ihn zu ohrfeigen! Komm schon, watsch mich! Denn dann schmeißt dich Mama raus! Hundertpro! Als dann tatsächlich etwas in sein Gesicht klatschte, war er trotzdem überrascht. Jakob stand da und starrte auf seine Hand, als gehöre sie nicht zu ihm. Pollo stürmte ins Haus, die Treppe hinunter und direkt in die Arztpraxis. Die Sprechstundenhilfe fuhr zusammen und wollte etwas sagen, aber Pollo kam ihr zuvor.

»Ist jemand drinnen?« Er zeigte auf die Tür des Behandlungszimmers.

»Nein, aber …!«, stotterte Frau Scheuermann, deren Mundwerk sonst so schnell ging wie ein Maschinengewehr.

Pollo riss die Tür auf. »Er hat mich geschlagen!«

»Was? Wer?« Nora war vor Schreck aufgesprungen. Plötzlich wurde Pollo ins Zimmer gedrängt und die Tür hinter ihm geschlossen. Jakob war ihm gefolgt.

»Darf er das? Darf er Papas Ofen abreißen? Darf er mich watschen?«

Dann redeten alle durcheinander.

»Niemand darf jemand anderen ohrfeigen: Es tut mir leid, Markus, aber du …«

»Es tut dir leid? So siehst du aber nicht aus!«

»Kann mir mal jemand sagen, um was es geht? Jakob? Hallo!«

»Dein Sohn hat mich auch geschlagen! Auf den Rücken, als ich mit dem Hammer gearbeitet habe! Was glaubst du, was für ein Schock …!«

»Was glaubst du, was es für ein Schock für mich ist, dass du Papas Ofen vernichtest!«

»Können wir mal ruhig …?«

»Nein!«, brüllte Pollo. »Kapierst du’s nicht Mama! Er hat mich ins Gesicht geschlagen!«

»Jakob tut so was normal nicht! Du wirst ihn schon provo…«

»Hast du’s gewusst, ja oder nein?«

»Was?«

»Dass er den Ofen kaputt macht?«

»Pollo, beruhige dich! Wir wollen doch den Wintergarten …«

»Du hast es gewusst!«

»Ja, verdammt!« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Keiner braucht diesen Ofen noch! Er ist überflüssig, kapito?«

»Aber Papa …«

»Der lebt in Italien und hat dort längst seinen eigenen Pizzaofen! Herrgott, du wirst dich doch nicht wegen diesem alten Ding so aufregen!«

»Doch! Papa wollte mir zeigen, wie man Pizza macht, und dann hätte ich …«

»Wollte, hätte! In hundert Jahren, oder wann? Du schaffst es ja nicht einmal, dich in den Zug zu setzen und ihn zu besuchen! Und er ist zu feig’, herzukommen! Wann, bitte schön, soll denn der Pizzabackunterricht stattfinden?«

Während sie zeterte, ging sie auf und ab, schlug mit der Faust auf ihren Bildschirm und trat gegen einen Papierkorb. Pollo folgte ihren Bewegungen mit aufgerissenen Augen.

»Wie oft hab ich versucht zu vermitteln, zwischen dir und deinem Vater! Ihr Sturköpfe! Jeder wartet, dass der andere den ersten Schritt macht. Du willst, dass er trotz seiner Kinder an dich denkt und dich lieb hat, und er will einen Liebesbeweis, dass du ihn trotz Jakob noch als Vater siehst und brauchst.«

Pollo muss sehr verwirrt geschaut haben, weshalb sie ihre Stimme senkte und erklärte: »Giovanni ist eifersüchtig auf Jakob. Er hat Angst, du könntest den Vater wechseln und ihn vergessen!«

»Warum sagt er das nicht mir

»Was weiß ich!« Sie wurde wieder laut. »Du fragst ihn, ob er Pfingsten Zeit hat. Weil er nicht gleich ›ja, juhu!‹ schreit, ziehst du dich zurück und denkst dir, jetzt ist er dran, soll er was vorschlagen. Giovanni denkt sich aber, so wichtig wird’s dem Pollo schon nicht sein, wenn er bloß einmal leise anfragt. Und ich dazwischen! Ich erkläre Giovanni, was mit dir los ist, und dir, was mit Giovanni los ist! Immer dieses Vermitteln! Ich ertrage es nicht mehr.« Wütend stieß sie ihren Atem aus. Dann wirbelte sie herum und stocherte mit dem Zeigefinger durch die Luft. »Und wenn ich jetzt auch noch zwischen euch beiden vermitteln muss, dann reicht’s mir vollends! Ich habe hier Arbeit zu erledigen, und ihr raubt mir meine Kraft und Zeit!«

»Ich wollte nur klarstellen …« Jetzt klang Jakob kleinlaut.

»Macht es unter euch aus! Ich will nicht den Schiedsrichter spielen bei einem Machospiel, bei dem ich nicht mal dabei war!«

Energisch schob sie die beiden zur Tür hinaus. Im Wartezimmer saß die Stadlerin und las hochkonzentriert in einer Illustrierten, um zu demonstrieren, dass sie überhaupt nicht neugierig war und gar nichts gehört hatte. Morgen würde es das ganze Dorf wissen, dass es bei den Maregas Streit gegeben hatte.

Ohne ein weiteres Wort rannte Pollo in sein Zimmer und sperrte sich ein. Er warf sich in Hühnchenstellung ins Bett und überließ sich dem Gefühl totaler Ohnmacht. Das Geratter des Kompressors setzte wieder ein. Er drückte das Kopfkissen auf seine Ohren und sagte immer wieder: »Ich will weg hier! Ich will zu Papa!«

Am liebsten würde ich bei dir bleiben, Papa! Hier halte ich es nicht mehr aus! Er sprang wieder auf und raste im Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Raubtier. Aber bei dir sind zwei Kreischbabys und eine Heulboje von Frau. Da ist auch kein Platz für mich. Und das steht eh nicht zur Debatte. Ihr wollt mich ja auch nicht haben, verdammt!

Pollo riss den Mund auf zu einem lautlosen Schrei, die Hände zu Fäusten verkrampft vor der Brust. »Es ist euer Leben«, hast du gesagt! Kommst du jetzt in meinem Leben überhaupt nicht mehr vor? Verdammt, du bist mein Vater! Von deinen anderen Kindern kriegst du alles mit, jeden Furz. Und was weißt du von mir? Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich vermisse, du Knallkopf? Was ich denke? Wie es mir hier geht? Dass dieser neue Geliebte deinen Ofen kaputt machen und mich ungestraft watschen darf? Pollo hatte sich in die Richtung gewandt, in der er Italien vermutete. Den Impuls, raus aus dem Haus und dann über die Felder in diese Richtung zu rennen, unterdrückte er. Kurz hatte er die Vision, zum Lager zu laufen, sich in das Baumhaus zu setzen und es in Brand zu stecken. Er blieb im Zimmer, raste auf und ab, auf und ab. Und für wen backst du jetzt Pizza? Wem erzählst du Geschichten von deinen Brüdern? Ich werde dir fremd und du mir auch! Und irgendwann ist es dann zu spät. Dann können wir nix mehr miteinander anfangen. Scheiße, das ist ungerecht!

Das Geratter verstummte. Jakob hatte wohl sein Werk vollendet. Pollo blickte aus dem Fenster und sah ihn in einer Staubwolke stehen, den Abbauhammer wie ein Maschinengewehr in den Händen, vor sich der Schutt. Er holte mit einem Bein aus und trat in den Haufen.

Pollo wandte sich ab und fing wieder an, auf und ab zu gehen. Plötzlich, mit einem Ruck, blieb er stehen. Wie ein Blitz hatte ihn eine Idee durchzuckt. Erschrocken wiederholte er den Gedanken noch einmal laut: »Ich gehe zu Papa. Allein. Ohne zu fragen. Über die Alpen.«

Er ließ sich mit Schwung auf seinen Bürostuhl fallen, sodass der erst einmal einen Meter rückwärtsfuhr.

Das war keine gewöhnliche Idee, die man überprüfen und dann ändern oder verwerfen konnte. Es war streng genommen gar keine Idee, sondern Pollo hatte beinahe das Gefühl, als hätte er kurz einen Einblick in seine Zukunft gehabt. Es stand sofort fest, dass er es...

Kategorien

Service

Info/Kontakt