Ohrfeige

Ohrfeige

von: Abbas Khider

Carl Hanser Verlag München, 2016

ISBN: 9783446251908

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 3852 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ohrfeige



STUMM UND STARR VOR ANGST hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt.

»Sie ruhig sind und bleiben still!«

Ich greife nach dem Packband in meiner Jackentasche, fessle ihre Hände an die Armlehnen und die Fußgelenke an die Stuhlbeine. Mit mehreren Streifen klebe ich ihren rot geschminkten Mund zu.

»Nix ich will hören!«

So langsam beginne ich, mich zu entspannen. Ich setze mich ihr gegenüber auf den Besucherstuhl, nehme mir ein Blatt Papier von ihrem Schreibtisch, mische etwas Hasch in meinen Tabak und drehe mir eine Zigarette. Ich zünde sie an und atme tief ein. Ganz genüsslich.

Das Papier schmeckt verbrannt und im ersten Moment will ich würgen, aber ich zwinge mich dazu, diese besondere Zigarette zu genießen. Ich ziehe daran, als wolle ich sie aussaugen, inhaliere den Rauch bis tief in meine Lungen und freue mich über den leicht brennenden Schmerz in meiner Brust. Ich fühle mich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Ich stehe auf, beuge mich zu ihr, gehe ganz dicht an sie heran und puste ihr den Rauch mehrmals mitten ins Gesicht. Da ihr Mund zugeklebt ist, muss sie den Qualm durch die Nase einatmen. Sie versucht den Kopf wegzudrehen und muss so sehr röcheln, dass sich das Klebeband auf und ab wölbt. In einer Behörde zu kiffen, das fühlt sich irrsinnig gut an.

»Frau Schulz, wir reden zusammen. Ich wollte immer, und Sie haben keine Zeit oder Wille für mich, wenn ich vor Ihrem Zimmer warten. Jetzt endlich ist so weit! Ob Sie wollen oder nicht, wir reden. Aber Deutsch ist schwer für mich und will ich viele Sachen erzählen. Ich muss Arabisch mit Ihnen reden, so ich kann frei reden. Leider!«

Ich will mich nicht länger durch die deutsche Sprache quälen, durch diesen Dschungel aus Fällen und Artikeln, die man sich nie merken kann. Es ist natürlich Quatsch, jetzt mit ihr Arabisch zu sprechen, aber was soll’s. Auch wenn Arabisch ihre Muttersprache wäre, würde sie mich nicht verstehen. Sie stammt aus einer ganz anderen Welt als ich. Ein Erdling spricht gerade mit einem Marsianer. Oder umgekehrt.

Das hier ist für mich eher wie die christliche Beichte, die ich mir einmal habe erklären lassen. Dabei sitzt man auch auf einem Stuhl in einem viel zu kleinen Raum. Auf jeden Fall kann ich mir jetzt meine Sorgen von der Seele reden.

Also, meine erste Frage: Wie lautet Ihr Vorname?

Sind Sie eine Sabine oder eine Anne-Marie? Sitzt dort vielleicht eine Astrid vor mir? Oder soll ich Sie Inge nennen? Ach, ich habe fast vergessen, dass Sie mir gar nicht antworten können. Aber nicken geht doch, oder? Also nicken Sie, wenn ich recht habe. Anita, Katharina, Ursula?

Nachnamen schaffen so eine Distanz zwischen den Menschen. Es ist interessant, wenn man jemandem wie Ihnen plötzlich einen Rufnamen gibt. Es ist, als würde ich Gott einen Vornamen geben. Wenn Allah einen Vornamen hätte, wäre er auch weniger einschüchternd. Amir Allah oder Wilma Allah klingt schon wesentlich sympathischer, finden Sie nicht?

Sie, Frau Schulz, gehören zu jenen, die hier darüber entscheiden, auf welche Weise ich existieren darf oder soll. Stellen Sie sich umgekehrt mal vor, in meiner Position zu sein. Würden Sie nicht gern wissen, wie diese gottesgleiche Figur mit Vornamen heißt? Jene Person, die Ihr Leben nach eigenem Gutdünken paradiesisch oder höllisch gestalten kann?

Wenn Sie sich jetzt sehen könnten!

Noch vor wenigen Minuten saßen Sie brav dort hinter Ihrem Schreibtisch verschanzt. Den Flachbildschirm wie einen Schild vor Ihrem Gesicht und den Oberkörper geschützt durch Aktenberge. Immer wieder fuchtelten Sie mit Ihrem spitzen Füller in der Luft herum, als würden Sie Fliegen erstechen. Und mit dem Gewicht Ihres übertrieben großen Stempels erdrückten Sie Hoffnungen. Wie der Hammer eines Richters krachte er auf Ihren Tisch.

Und jetzt?

Da sind Sie. Hilflos. Verschnürt wie ein Paket. In Ihrem teuren schwarzen Lederstuhl. Sie waren eine Göttin. Eine Naturgewalt, die Macht über andere Menschen hat. Ich war Ihnen ausgeliefert. Aber wie ein mythischer Held habe ich mich erhoben und den Olymp erstürmt. Und ich werde Sie bald zurücklassen in Ihrem kleinen Beamtenstübchen. Dann sitzen Sie hier, einsam wie ein Schöpfer, dessen Kreaturen ihn vergaßen. Ein Gott, an den keiner glaubt, existiert nicht. Das gilt auch für Göttinnen. Ich werde Sie zurücklassen und in ein fernes Land gehen.

Sie wissen ganz genau, wer ich bin. Ich bin einer der vielen, deren Akten Sie gelesen und bearbeitet haben, um sie wieder abzulegen.

Karim Mensy heiße ich. Hallo.

Wieder einer dieser ausländischen Namen, die man sich schwer merken kann. Für Sie war ich wohl Asylant 3873 oder so. Nicht mehr wert als die Nummern, die ich ziehen musste, um zu warten. Es war ein sinnloses Warten, das ich nur auf mich genommen habe, weil ich die Hoffnung hatte, Verständnis zu erfahren und eine Chance zu bekommen. Stattdessen wurde ich immer wieder fortgeschickt. Auswendig kenne ich Ihre Sprüche, doch bitte noch irgendeinen neuen Nachweis zu erbringen. Und immer musste ich warten, selbst in meinen nächtlichen Träumen. Sogar auf Wartenummern habe ich da schon gewartet. Hier, sehen Sie mal! In meiner Hosentasche habe ich noch eine.

Ich habe Ihnen angesehen, dass Sie sich nicht an mich erinnert haben, als ich eben hereinmarschiert bin. Aber das ist auch kein Wunder, denn im Laufe der letzten Jahre habe ich mich stark verändert. Früher war ich mollig und hatte ein unrasiertes Kinn. Wie Sie sehen, trage ich jetzt keinen Bart mehr. Seit dem 11. September wäre es töricht, so bärtig wie Osama bin Laden herumzulaufen. Seither laufen alle arabischen Männer mit glatt rasierten Gesichtern herum, sie sehen aus wie Babypopos. Und schauen Sie mal, wie weit meine Kleider geworden sind. Die harte Arbeit auf der Baustelle ist die beste Methode, um abzunehmen.

Heute bin ich mit der Absicht zu Ihnen gekommen, mich einfach mal mit Ihnen von Mensch zu Mensch in aller Ruhe zu unterhalten. Worüber? So genau weiß ich das selbst nicht. Eigentlich wollte ich schon vor drei Wochen bei Ihnen vorbeikommen. Ich wollte noch ein letztes Mal von München nach Niederhofen an der Donau fahren, bevor ich Deutschland für immer verlassen muss. Um mich von meinen Freunden zu verabschieden – und von Ihnen, Frau Schulz. Das war an einem Freitag. Die Polizisten kreisten wie üblich am Münchner Hauptbahnhof wie die Geier auf der Suche nach verfaultem Fleisch. In ihren beigegrünen Uniformen marschierten sie auf und ab und glotzten prüfend in das Gesicht jedes Passanten.

Lange stand mein Freund Salim vor der großen Anzeigetafel in der Haupthalle, beobachtete die Bullen für mich und telefonierte ständig mit mir, um von der aktuellen Situation an den Gleisen zu berichten.

Die Zeit raste davon und mein Zug sollte schon in fünfzehn Minuten abfahren. Ich weiß nicht, was größer war – die Angst, den Zug zu verpassen, oder die Angst, verhaftet zu werden kurz bevor ich den Zug erreiche. Mein Standort jedenfalls war perfekt gewählt. Das bayerische Restaurant Mongdratzerl liegt mitten in der Bahnhofshalle und verfügt über einen Ausgang an der Nordseite hinaus zur Arnulfstraße. Ich konnte gleichzeitig die Halle beobachten und die Straße vor dem Bahnhof. Bei sich anbahnender Gefahr hätte ich sofort das Weite suchen können.

Ein neuerliches Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich bin’s«, sagte Salim. »Gott, als ob diese Bullen wüssten, dass du hier bist. Sie denken nicht daran, den Bahnsteig zu verlassen. Die wandern hin und her wie aufgezogene Spielzeugroboter.«

Vor mir auf dem Tisch standen ein Becher Kaffee und ein zur Hälfte gefülltes Glas Wasser. Mein Rucksack lag unter dem Stuhl. Unkonzentriert blätterte ich in der Süddeutschen Zeitung, nur hin und wieder auf eine fette Schlagzeile starrend. Dabei hielt ich sie wie in einem alten Agentenfilm so hoch, dass sie mein Gesicht vollständig verdeckte, nur um sie in regelmäßigen Abständen wie zufällig bis knapp unter die Augen zu senken, damit ich einen Blick über den Rand werfen konnte. Ich musste die Umgebung ständig im Blick behalten, um rechtzeitig zu erkennen, ob sich mir jemand näherte. Ich erschrak jedes Mal, wenn sich die Kellnerin anschlich und plötzlich neben mir auftauchte, um zu fragen, ob alles zu meiner Zufriedenheit sei.

Die Tarnung als Lesender hat schon an vielen Bahnhöfen funktioniert. Normalerweise beachten mich die Polizisten dann nicht. Offensichtlich denken sie, dass ein Illegaler aus einem dieser unterentwickelten Länder sicher nicht lesen kann. Mit der Süddeutschen Zeitung in der Hand trägt man als Illegaler in Bayern gewissermaßen Tarnfarben.

Ach, Frau Schulz, das bringt mich auf meinen Sprachkurs hier in Niederhofen. Unsere Lehrerin Frau Müllerschön riet uns, täglich Zeitung zu lesen. Zuerst sollten wir uns die BILD vornehmen, denn darin seien die Sätze eingängig, aber sobald uns die zahlreichen grammatikalischen Fehler eigenständig auffielen, sollten wir mit der Lektüre der Süddeutschen beginnen. Ich entdeckte nie einen sprachlichen Schnitzer in der BILD, ich fand sie perfekt zum Deutschlernen. Trotzdem stieg ich irgendwann notgedrungen auf die SZ um, obwohl ich deren Artikel bis heute kaum verstehe. Einerseits war es mir irgendwie peinlich, die BILD-Zeitung mit mir herumzutragen, besonders wegen ihres lausigen Rufes. Andererseits bemerkte ich, dass die Leute aus meinem Bekanntenkreis, ob in den Regionalzügen, bei der Arbeit oder in den Cafés, Zeitungen wie die Süddeutsche nicht lesen. Diese blättern in der...

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