Mit den Wolken fliegen - Bericht aus einem fernen Leben

Mit den Wolken fliegen - Bericht aus einem fernen Leben

von: Roni Baerg

Zytglogge Verlag, 2016

ISBN: 9783729621046

Sprache: Deutsch

670 Seiten, Download: 1427 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mit den Wolken fliegen - Bericht aus einem fernen Leben



Reise in die Vergangenheit


«Pa, wir machen uns auf den Weg nach Brasilien. Wir wollen Witmarsum und den Krauel suchen. Ich will die Stelle finden, wo du geboren bist.»

Pa schaut mich fragend an und denkt kurz nach. Dann sagt er: «Ich bin nicht mehr dort gewesen. Ich hatte nie mehr die Gelegenheit. Weißt du überhaupt, wo das ist? Glaubst du, du findest den Krauel?»

«Pa, wi moakä onns oppem wach no Bresilie. Wi welli Witmarsum in den Krauel setchä. Etj well deu Sted fine, wue dü jibueri bäst.»

«Etj si nimols meua doa jiwesi. Etj hod ni meua de jileainhet. Weutst dü iwerhopst, wuo dot äs? Jleuwst dü, dü finst den Krauel?»

Wir unterhalten uns in Plattdeutsch, der Sprache unserer Urväter, der Mennoniten. Ich beruhige ihn:

«Ich glaube schon, Pa. Du hast mir viel erzählt. Bruno und ich finden den Fluss sicher.»

«Roni, denk daran, es ist die Stelle, wo der Cambará in den Krauel fließt, dort habe ich gefischt. Orientiere dich an der Brücke, die den Fluss überquert. Sie wurde von den Mennoniten gebaut. Da fällt mir noch ein, es gab da eine Familie Grazmik. Mit denen verkehrten meine Eltern. Vielleicht leben die noch dort.»

Dann nehmen wir Abschied. Ich drücke meine Eltern fest an mich und bin froh, den Ort meiner Kindheit und die Probleme, die wie Aasgeier über diesen Ort schweben, wieder hinter mir zu lassen. Als ich mich auf dem Hof noch mal umdrehe, sehe ich, wie mein Vater in Gedanken versunken unter dem Schattendach steht und uns nachblickt.

Ich werde dir alle Antworten bringen, Pa. Und auch mir, denke ich mit Tränen in den Augen. Ich werde mich auf die Suche nach mir selbst machen.

Es ist bis jetzt die schönste Reise, die Bruno und ich zusammen unternehmen. Auch wenn uns ständig die Frage quält, wie es mit unserem gemeinsamen Leben weitergehen soll, genießen wir jede Minute, in der wir zusammen die Gegenden erkunden. Wir fahren von der ­Kolonie Neuland durch den Chaco nach Ostparaguay, dann über die Ruta uno nach Argentinien. Dort besuchen wir das Naturschutzgebiet Ibera. Dann geht es nach Südbrasilien, immer weiter, bis Santa Catarina. Dieser Wechsel von Flachland, Sümpfen, Bergland, Tälern und Eukalyptuswäldern, von lauten Städten und einsamen Strecken, das ist unglaublich für mich, denn ich hatte bis jetzt in meinem Leben nie das Geld und die Zeit, um zu reisen. Bisher habe ich überlebt und nicht gelebt, ich habe geschuftet und meine Hauptsorge war immer, ob ich bis Ende Monat genug zu essen habe, und nicht, welche Orte ich mir anschauen könnte. Seit drei Jahren bin ich mit Bruno zusammen. Endlich kann ich genug schlafen, habe genug zu essen und brauche keine Angst mehr zu haben. Und doch ist die Ehe mit ihm unendlich schwer, weil wir unsere Welten nicht zusammenbringen. Wir sind wie von zwei verschiedenen Planeten und oft habe ich Angst, dass trotz der großen Liebe, die uns verbindet, unsere Ehe zerbricht.

Wir erreichen das Departement Santa Catarina und halten zuerst im Dorf Ibirama an. Hier beginnen wir, die Menschen nach dem Krauelfluss zu fragen, doch niemand kennt ihn. Deshalb suchen wir im Internet nach dem Fluss. Endlich finden wir den Rio Krauel und Bruno zeichnet eine Karte seines Verlaufs. Ich verspüre eine unbeschreibliche Erleichterung, als ich den Plan in der Hand halte und mir bewusst werde, wie nahe ich meinem Ziel bin.

Wir fahren mithilfe unserer Zeichnung weiter, bis wir Witmarsum ­erreichen. Bruno und ich haben es dringend nötig, uns einige Tage zu trennen, denn wir sind auf unserer Südamerikareise wochenlang Tag und Nacht zusammen gewesen. Wir haben beide das Bedürfnis, ein paar Tage für sich alleine zu verbringen.

«Wo gehst du hin, wenn ich hier alleine zurückbleibe? », frage ich ihn.

«Ich glaube, ich fahre nach Blumenau. Es ist bekannt für sein ­Oktoberfest. Ich würde es mir gerne ansehen.»

Wir fahren langsam durch das Dorf. Die Straße, die durchs Dorf führt, ist lang. Weitläufig stehen die Häuser und Geschäfte. Ich entdecke ein Museum, und als wir das Dorf schon fast hinter uns haben, sehe ich einen Fluss. Ob das der Krauel ist?

Wir halten vor einem einfachen Holzgebäude, an dem ein Schild mit der Aufschrift «Hotel» hängt. Es ist gerade Mittagszeit. Wir treten ein. Es gibt einen Essraum mit einer kleinen Bar, in der im Moment viele Gäste beim Essen sitzen. Ein Gang führt weiter nach hinten, links liegt die Küche und der Küchentür gegenüber das erste Zimmer. Im Ganzen sind es fünf aneinandergereihte Gästezimmer. Vor den Zimmertüren liegt eine überdachte Bocciabahn. Nur ein schmaler Weg führt den Gang entlang zu den Türen. Ich erkläre dem Besitzer, dass ich für einige Tage alleine bei ihnen übernachten will.

«Was machen Sie hier?» fragt er neugierig.

«Mein Vater ist hier geboren. Ich will das Dorf kennenlernen.»

Er schaut mich nachdenklich an und sagt: «Ich gebe Ihnen das erste Zimmer», und zeigt auf eine Tür neben uns.

«Werden Sie auch hier essen?»

«Ja, gerne», sage ich.

«Ist gut. Frühstück gibt’s vorne ab sieben und mittags gibt es zu
einem Fixpreis ein Büfett. Sie können so viel nehmen, wie Sie wollen. Für Ihr Abendessen müssen Sie halt etwas einkaufen, da kochen wir nicht», erklärt er.

Ich packe im Auto alles zusammen, was ich für fünf Tage benötige, und verabschiede mich von Bruno. Bei dem, was ich jetzt vorhabe, ist es besser, wenn ich ohne ihn unterwegs bin. Ich will nicht nur den Ort besuchen, an dem Pa geboren ist, sondern auch nach Menschen aus der damaligen Zeit suchen, die nie weggezogen sind, wie Kornelius und Margret, auch Nicolai und Anganeta und viele andere Mennoniten.

Nachdem Bruno weggefahren ist, beziehe ich mein Zimmer. Es ist sehr einfach und unbeheizt. Draußen sind es nur neun Grad, und so wie es aussieht, können wir die Sonne in den nächsten Tagen vergessen, denn der Himmel ist mit dichten Wolken verhangen. Zum Glück habe ich den warmen Schlafsack aus dem Auto genommen. Den werde ich jetzt dringend brauchen. Als ich mich aufs Bett setze, spüre ich, dass mein Hals schmerzt und eine Grippe im Anzug ist. Ich schließe die Augen. Mein Kopf ist so voll und meine Arme und Beine fühlen sich bleischwer an. Es überfällt mich das starke Bedürfnis, ganz lange zu schlafen. Ich denke an das Zimmer meiner Kindheit. Mein Bett stand an der Ostseite des Hauses. Weil wir keinen Strom hatten, gingen wir immer sehr früh schlafen. Ich schlief gerne auf dem Bauch. Dabei drehte ich die Beine so, dass die Füße nach innen gewinkelt waren und sich die Zehen berührten. Diese Position fand ich unglaublich entspannend. Der Kopf lag seitwärts, so, dass das linke Ohr nach oben zeigte. Die Arme lagen im Winkel nach oben, wie bei einem Baby. Ein Kissen brauchte ich nie, das stellte ich neben das Bett. Die Kissen machte meine Ma. Die Entendaunen waren so fest in den Bezug gestopft, dass man sie wie Skulpturen aufstellen konnte. Diese Erinnerungen lassen mich schmunzeln. Ich frage mich, wann ich diese entspannte Schlafstellung aufgegeben habe. Sie stritten so viel, meine Eltern. Ma weinte und Pa sprach mit seiner lauten Stimme auf sie ein: «Ihr seid alle so verlogen! Immer hinten durch! Immer hinter meinem Rücken!», schallte es ins Zimmer. Die Zimmertüre war aus Holztäfer, ganz dünn und hellblau gestrichen. Nachts bei Neumond wirkte sie wie ein schwarzes Loch, das mich zu verschlucken drohte. Ich kauerte mich zusammen, zog die Decke schützend an mich und schlang meine kleinen Arme um meine Beine. So schlief ich manchmal sitzend ein und rutschte mit der Zeit auf die Seite, zusammengekrümmt wie ein Tier, das Schmerzen hat.

Es ist schon ein Uhr nachmittags. Ich nehme meine Fotokamera und ein wenig Geld, um im Dorf einkaufen zu gehen, damit ich am Abend etwas zu essen habe. Neben dem Hotel ist eine katholische Kirche und hinter ihr befindet sich ein Friedhof. Es zieht mich zum Friedhof und lange schaue ich mir die Gräber an. Doch ich finde keinen einzigen mennonitischen Nachnamen. Also ist in dem Fall kein Mennonit in Witmarsum Katholik geworden, denke ich und lächle.

Dann gehe ich weiter und komme zum Museum. Vor dem Eingang steht ein Denkmal. Wie überrascht ich bin. Auf einem großen dunklen Felsbrocken ist eine Tafel befestigt, auf der mit goldener Schrift auf schwarzem Grund die Geschichte der Mennoniten festgehalten ist: Mennoniten – 70 Jahre Mennoniten in Brasilien 1930–2000. Ich betrachte lange nachdenklich das Museumgebäude. Es ist ein braunes Holzhaus. Im Garten auf der linken Seite stehen mehrere alte Maschinen. Ich gehe zum Eingang, doch er ist verschlossen. Auf der Straße geht eine Frau vorbei, die mir auf Portugiesisch erklärt, dass das Museum erst um zwei öffnet und ich noch ein wenig zu früh bin. Als ich mich in meinem schlechten Portugiesisch bedanke, betrachtet sie mich von oben bis unten und fragt:

«Deutsch?»

«Ja», sage ich dankbar.

Sie lächelt und spricht auf Portugiesisch weiter: «Die Frau vom Museum kann Deutsch. Nachher können Sie deutsch reden.»

Ich setze mich draußen auf eine Bank, nehme mein Heft aus der Tasche und schreibe:

Ich bin sehr froh, dass Bruno mich für einige Tage losgelassen hat, auch wenn ich ihn jetzt schon vermisse. So kann ich ein wenig zur Ruhe kommen. Mein Kopf ist so wirr und ich weiß eigentlich nicht, was ich hier will, und dieser Aufenthalt in Witmarsum macht mir großen Respekt. Am liebsten würde ich die Flussstelle finden, wo Pa Onkel Hans das Leben gerettet hat. Auch würde ich gerne mit jemandem über die damalige Zeit reden wollen, über die Zeit, als Pa klein war.

Wenn ich mich gehen lassen würde, würde ich die ganze...

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