Das Jahr, in dem ich lügen lernte

Das Jahr, in dem ich lügen lernte

von: Lauren Wolk

Carl Hanser Verlag München, 2017

ISBN: 9783446255982

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 2160 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Jahr, in dem ich lügen lernte



1


Alles begann mit meinem Sparschwein aus Porzellan, das Tante Lily mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt hatte.

Als es plötzlich nicht mehr da war, bemerkte meine Mutter das sofort.

»Versteckst du etwa dein Sparschwein, Annabelle?« Sie war dabei, die Dielen in meinem Zimmer zu schrubben, während ich meine Sommersachen verstaute. Es musste ihr gleich aufgefallen sein, dass das Schwein fehlte, denn außer den Möbeln und den Fenstern gab es in meinem kleinen Zimmer nicht viel – einen Kamm und eine Bürste und ein Buch neben meinem Bett. »Du musst deine Sachen nicht verstecken«, sagte Mutter. »Niemand nimmt dir etwas weg.« Sie rutschte auf allen vieren herum, ihr ganzer Körper folgte ihren Bewegungen beim Schrubben, und die Sohlen ihrer schwarzen Arbeitsschuhe zeigten ausnahmsweise nach oben.

Ich war froh, dass sie mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich faltete gerade ein Sonntagskleid in viel zu leuchtendem Rosa, aus dem ich hoffentlich im nächsten Frühjahr herausgewachsen sein würde, und stellte mir vor, wie mein Gesicht in derselben grässlichen Farbe glühte.

Als ich an jenem Tag von der Schule nach Hause gekommen war, hatte ich das Schwein geschüttelt, um einen Penny herauszuholen, und dabei war es mir aus der Hand gefallen. Es war in tausend Stücke zerbrochen und hatte dabei all die Münzen freigegeben, die ich in Jahren zusammengespart hatte und die inzwischen sicher an die zehn Dollar ergaben. Die Scherben hatte ich hinter dem Küchengarten vergraben, das Geld in ein altes Taschentuch getan und dessen Enden zusammengeknotet. Dieses kleine Bündel hatte ich unter meinem Bett in einem Winterstiefel versteckt, zusammen mit dem Silberdollar, den Großvater mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, einen aus seiner Sammlung.

Den Silberdollar hatte ich nie in mein Sparschwein gesteckt, weil ich ihn nicht als Geld ansah. Er war so etwas wie eine Medaille, die ich irgendwann tragen würde, so schön war die Frau darauf, so ernst und prächtig in ihrem Strahlenkranz.

Ich beschloss, dass ich mich vielleicht von einem Penny trennen würde, vielleicht auch von mehreren, doch niemals würde ich dem schrecklichen Mädchen meinen Silberdollar geben.

Den Schulweg legte ich immer zusammen mit meinen Brüdern zurück. Henry war damals neun und James sieben. Auf dem Hinweg ging es hinunter zur Wolfsschlucht, auf dem Rückweg wieder hinauf. Genau am Eingang zur Schlucht stand an jenem Tag ein großes, kräftiges, älteres Mädchen namens Betty. Sie werde nach der Schule dort auf mich warten, hatte sie angekündigt.

Sie war aus der Stadt hergeschickt worden, um bei ihren Großeltern zu leben, den Glengarrys, die oberhalb des Racoon Creek wohnten, nicht weit von der Straße, die zu unserer Farm führte. Seit sie vor drei Wochen zum ersten Mal bei uns in der Schule aufgetaucht war, hatte ich Angst vor ihr.

Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute, Betty sei »schwer erziehbar«, deshalb sei sie aufs Land geschickt worden. Den Ausdruck hatte ich bis dahin noch nie gehört. Mir war nicht klar, ob sie zur Strafe zu den Großeltern aufs Land geschickt worden war oder ob man sie dadurch zu einem besseren Menschen machen wollte. Wie dem auch sein mochte, ich fand es nicht fair, sie ausgerechnet uns aufs Auge zu drücken, die wir nichts Schlimmes getan hatten.

Sie erschien einfach eines schönen Morgens in unserer Schule, ohne große Ankündigung oder nähere Erklärungen. Wir waren auch ohne sie schon fast vierzig, mehr, als in der kleinen Schule eigentlich Platz hatten, sodass manche von uns sich ein Pult teilen mussten, das eigentlich nur für einen gedacht war. Dann schrieben und rechneten zwei auf der zerkratzten abgeschrägten Schreibplatte, zwei verwahrten ihre Bücher in dem Fach darunter.

Mir machte das nichts aus, weil ich mir einen Platz mit meiner Freundin Ruth teilte, einem dunkelhaarigen Mädchen mit blasser Haut und roten Lippen, mit leiser Stimme und stets perfekt gebügelten Kleidern. Ruth und ich lasen beide gern, das verband uns und war uns wichtig. Außerdem waren wir beide dünn und badeten regelmäßig (was man nicht von allen Kindern in unserer Schule sagen konnte), und deshalb war es nicht so schlimm.

An dem Tag, als Betty zu uns kam und ganz hinten im Klassenzimmer stehen blieb, sagte Mrs. Taylor, unsere Lehrerin: »Guten Morgen!« Betty sagte nichts, stand nur da mit vor der Brust verschränkten Armen. »Kinder, das ist Betty Glengarry«, stellte Mrs.Taylor sie uns vor. Für mich klang das wie ein Name aus einem Lied.

Es wurde erwartet, dass wir Guten Morgen sagten, und das taten wir auch, doch Betty sah uns nur wortlos an.

»Es ist ein bisschen eng bei uns, Betty, aber wir werden schon noch ein Plätzchen für dich finden. Häng erst einmal deinen Mantel und den Henkelmann mit deinem Mittagessen auf.«

Schweigend warteten wir alle ab, wo Mrs. Taylor Betty wohl hinsetzen würde, doch bevor sie noch dazu kam, der Neuen einen Platz zuzuweisen, stand ein mageres Mädchen namens Laura auf, raffte ihre Bücher zusammen und zwängte sich neben ihre Freundin Emily, sodass ein Pult frei wurde. Sie hatte anscheinend geahnt, was sonst auf sie zukommen würde.

Der freie Platz war also von da an Bettys. Sie saß direkt vor Ruth und mir, so dicht, dass ich schon bald kleine rote Stellen an den Beinen hatte, wo Betty mich gern unter dem Pult mit dem Bleistift pikste. Ich war nicht glücklich mit der Situation, andererseits war ich froh, dass Betty mich als ihr Opfer ausgesucht hatte und nicht Ruth, die kleiner und zierlicher war als ich. Ein anderer Unterschied zu Ruth war, dass ich Brüder hatte, die mir schon weit Schlimmeres zugefügt hatten. Während Bettys erster Woche bei uns beschloss ich also, diese kleinen Attacken einfach durchzustehen; sicher würden sie mit der Zeit nachlassen.

In einer anderen Art von Schule hätte die Lehrerin vielleicht etwas bemerkt, aber Mrs. Taylor musste sich einfach darauf verlassen, dass alles, was hinter ihrem Rücken geschah, sie nicht zu kümmern brauchte.

Da alle Jahrgänge im selben Raum unterrichtet wurden, saßen die Kinder, die gerade an der Reihe waren, auf Stühlen dicht gedrängt vor der Tafel, während wir anderen still an unseren Plätzen arbeiteten, bis wir selbst nach vorn gerufen wurden.

Einige der älteren Jungen verschliefen einen Großteil des Schultages. Wenn sie an die Tafel kommen sollten, zeigten sie ihre Verachtung für Mrs. Taylor so offen, dass ihre Lektionen sicher kürzer ausfielen als eigentlich vorgesehen. Diese großen Jungen arbeiteten alle schon auf den Farmen ihrer Familien mit und sahen überhaupt nicht ein, wozu sie noch zur Schule gehen sollten, die ihnen doch nichts beibrachte über Aussaat, Ernte oder Tierzucht. Außerdem wussten sie sehr wohl, dass das, was sie in der Schule lernten, ihnen nicht dabei helfen würde, gegen die Deutschen zu kämpfen, wenn sie alt genug wären, um eingezogen zu werden – sollte der Krieg bis dahin noch nicht zu Ende sein. Was sie zu kräftigen Kämpfern machte oder ihnen vielleicht sogar die Teilnahme am Krieg ersparen konnte, war nicht die Schule, sondern die tägliche Arbeit auf den Höfen und die Tatsache, dass die Farmer und Kleinbauern für die Versorgung der Soldaten wichtig waren.

In den kältesten Monaten jedoch war die Arbeit zu Hause oft langweilig und mühsam. Dann mussten Zäune geflickt, Scheunendächer repariert und Wege erneuert werden. Vor die Wahl gestellt, einen Tag friedlich schlummernd im Klassenzimmer abzusitzen und sich in den Pausen mit den anderen Jungen zu raufen, statt draußen im eisigen Wind zu arbeiten, wählten die Jungen gewöhnlich die Schule. Vorausgesetzt, ihre Väter ließen sie gehen.

Doch als Betty im Oktober in die Klasse kam, waren die Tage noch warm, und diese wüsten Rabauken erschienen nicht regelmäßig zum Unterricht. Ohne Betty wäre die Schule also ein friedlicher Ort gewesen, wenigstens bis zu jenem furchtbaren November, als alles in Stücke fiel und ich eine ganze Litanei von Lügen erzählen musste.

Damals kannte ich noch kein Wort, das Betty treffend beschrieben hätte oder mit dem ich den Unterschied zwischen ihr und uns anderen in der Schule hätte benennen können. Sie war noch keine Woche bei uns, da hatte sie unseren Sprachschatz schon um ein Dutzend Wörter erweitert, die wir wirklich nicht zu kennen brauchten, hatte Emily ein Tintenfass über den Pullover gekippt und den jüngsten Kindern erklärt, woher die Babys kamen. Ich selbst hatte das erst im vergangenen Frühling von meiner Großmutter erfahren, als unsere neuen Kälbchen zur Welt kamen. Meine Großmutter, die mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte, jedes in dem Bett, in dem sie noch immer Nacht für Nacht neben meinem Großvater schlief, hatte mir die Zusammenhänge mit Würde und Humor erklärt, und so war es für mich keine schockierende Neuigkeit. Für die Jüngsten in meiner Schule war es das hingegen schon. Betty war brutal und jagte ihnen Angst und Schrecken ein. Das Schlimmste war, dass sie ihnen verbot, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, sonst würde sie ihnen nach der Schule durch den Wald folgen und sie verprügeln. So wie sie es später mit mir machte. Vielleicht würde sie sie sogar umbringen. Und die Kleinen glaubten ihr, so wie ich auch.

Ich selbst konnte meinen Brüdern ein Dutzend Mal am Tag mit Tod und Verstümmelung drohen – sie lachten bloß und streckten mir die Zunge heraus. Doch Betty musste sie nur ansehen, und sofort wurden sie still. Sie wären mir also vermutlich keine große Hilfe gewesen, wenn ich sie an jenem Tage bei mir gehabt hätte, als Betty in der Wolfsschlucht plötzlich hinter einem Baum...

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