Als Clara Dorn ein bisschen heilig wurde - Roman

Als Clara Dorn ein bisschen heilig wurde - Roman

von: Susanna Mewe

dtv, 2017

ISBN: 9783423430517

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 909 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Als Clara Dorn ein bisschen heilig wurde - Roman



1 Ein großer Verlust


Clara Dorns Blick glitt über die stumme, würdevolle Menge, die sich zwischen den verwitterten Grabsteinen versammelt hatte. Sie sah kunstvoll gewundene Hochsteckfrisuren, Familienwappen, Designerkostüme und dezente Blumengebinde, jede Menge Hüte und Schleier und natürlich die leuchtend weißen Handschuhe der Sargträger. In ästhetischer Hinsicht waren die Beerdigungen des Hochadels nicht zu schlagen, das musste man zugeben. Sogar der stetig vor sich hin tröpfelnde Regen hatte etwas Stimmungsvolles. Die Trauergäste standen gefasst vor dem frisch aufgeschütteten Erdwall, das klaffende Rechteck zu ihren Füßen, während die Träger langsam den Sarg hinabließen. Jede ihrer Bewegungen schien einem genau festgelegten Protokoll zu folgen. Im Moment allerdings bewegte sich gar nichts. Die vier Männer standen bloß da, die Enden der straff gespannten Hanfseile in den Händen, mit ausdruckslosen Gesichtern, und rührten sich nicht. Falls sich der Sarg auf seinen Bestimmungsort zubewegte, dann höchstens millimeterweise.

Clara verrenkte sich den Hals, um über die schwarze Mauer steifer Herrenrücken zu spähen, die ihr die Sicht versperrten. »Runter damit«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Ich krieg nasse Füße.«

»Kein Wunder, bei den Schuhen.« Marie warf einen abfälligen Blick auf Claras spitze Chanel-Pumps. Claras Hausarzt hatte ihr Schuhe dieser Art eigentlich schon vor Jahren verboten. Als Ersatz hatte er ihr orthopädisches Schuhwerk empfohlen, das Claras Ansicht nach allerdings immer wie etwas aussah, mit dem man Hafer drosch. Sie behielt ihre Schuhe und wechselte stattdessen lieber den Hausarzt.

»Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.« Marie ließ ihren Blick missgelaunt durch die Runde schweifen. »Schau dir die Bagage doch an.« Sie wies auf die Witwe in der ersten Reihe. Die Gräfin war eine hagere, silberhaarige Frau mit einem Gesicht wie verwitterter Granit. Sie stützte sich schwer auf ihren beleibten Sohn, der seiner Mutter mit bekümmerter Miene in regelmäßigen Intervallen über den Rücken strich. An seiner Seite stand, etwas linkisch, die zu groß geratene Schwiegertochter, daneben der auf den Boden starrende Enkel. »Das kannst du vergessen.« Marie schüttelte den Kopf. »Die bleiben auf ihrem Kram sitzen. Die Alte hat’s nicht nötig. Der Sohn ist kreuzbrav und die Schwiegertochter hat eh nichts zu sagen. Das war eine Schnapsidee von dir.«

Clara drückte sich die Spitze ihres Seidentaschentuchs ans Gesicht und wischte sich eine unsichtbare Träne aus dem Augenwinkel. Sie versuchte es mit einem diplomatischen Lächeln, doch Marie war nicht zu beschwichtigen. »In unserem Alter sind Beerdigungen gefährlich. Hier stundenlang in der Nässe herumzustehen. Vollkommen idiotisch.«

»Du meinst, wir holen uns den Tod?«

Doch Marie war, wenn sie fror, unempfänglich für jede Ironie. »Weißt du eigentlich, wie viele Leute sich auf Beerdigungen die Lungenentzündung zuziehen, die letztlich zu ihrem Tod führt? Statistiken belegen, dass siebenundsiebzig Prozent aller Beerdigungsbesucher in der Altersgruppe von siebzig bis achtzig …« Clara nickte höflich und hörte nicht mehr zu. Marie liebte Statistiken und verfügte über ein unerschöpfliches Repertoire. Sie kannte Statistiken zur Regenwahrscheinlichkeit im August, der Wahlbeteiligung der Wechselwähler und der Häufigkeit von tödlichen Beißunfällen bei Hundeattacken. Clara war sich nie sicher, ob Marie all diese Tabellen, Prozentzahlen und Kurvendiagramme tatsächlich im Kopf parat hatte – in diesem Fall verfügte sie wohl über ein fotografisches Gedächtnis – oder ob sie einfach aus dem Stegreif etwas erfand.

Es war im Grunde egal, denn Clara hörte ihr ohnehin nicht zu. Auch im Moment nutzte sie die Gelegenheit lieber, um von schöneren Dingen zu träumen. Dem Chanel-Kostüm zum Beispiel, das sie sich nach dem erfolgreichen Abschluss dieser Aktion gönnen würde. Ihr Blick wanderte zum Enkelsohn zurück. Er hatte seinen Anzugkragen hochgeschlagen und klemmte sich fröstelnd die Hände in die Achselhöhlen. Das Haar hing ihm fransig in die Stirn. Er erinnerte Clara an einen Hund. Diese edle, überzüchtete Rasse, deren Name ihr im Moment nicht einfallen wollte. In ihren jungen Jahren setzte man solche Hunde bei Rennen ein, bis man sie dann nach wenigen Saisons wegen Hüftproblemen einschläfern musste. Edel, aber degeneriert. »Ich rede mal mit dem Enkel«, sagte Clara, mehr zu sich selbst.

Marie lachte höhnisch. »Dir hat wohl jemand ins Gehirn geschissen.« Clara rümpfte die Nase. Marie musste wirklich aufhören, sich beim Nägellackieren diese ordinären Nachmittagstalkshows im Fernsehen anzusehen, die hatten einen fatalen Einfluss auf ihren Wortschatz. Mit einem dumpfen Poltern landete der Sarg endlich auf dem Boden der Grube. Einige Trauergäste, die offensichtlich schon nicht mehr damit gerechnet hatten, dass dieses Ereignis jemals eintreten würde, zuckten zusammen. Doch im nächsten Moment kam erleichterte Bewegung in die Trauergesellschaft, und alle begannen, sich in einer Reihe aufzustellen. Clara nickte mitfühlend. »Ein guter Junge. Leider in schlechter Gesellschaft. Im Internat ist er an die Drogen gekommen. Seitdem ist er immer in Geldnöten.«

»Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Pauls Großtante und ich gehen zum selben Friseur.«

»Das ist nicht dein Ernst.« Maries Stimme klang eindeutig gereizt.

»Ich weiß, was du meinst.« Clara seufzte. »Hamburg ist zwar eine große Stadt, aber die Auswahl an fähigen Friseuren ist erschreckend gering. Constanze und ich haben beide Problemhaar, musst du wissen.«

Marie sah sie kopfschüttelnd an. »Du bist wirklich unglaublich. Wenn’s dich nicht gäbe, müsste man dich erfinden, um kleine Kinder zu erschrecken.«

 

Lächelnd reihte sich Clara in die Schlange der Kondolierenden ein. Maries moralische Skrupel waren ein Witz. Schließlich war auch sie nicht hier, um einen siebenundachtzigjährigen von und zu Karlsburg unter die Erde zu bringen, sondern weil sie wusste, dass Beerdigungen dieses Kalibers eine Goldgrube waren. Die Frau in der Reihe vor Clara bot ein Bild des Jammers. Gramgebeugt schlurfte sie dahin und wühlte bei jedem Schritt Erde auf. Dann schluchzte sie auch noch laut auf und presste sich ein Taschentuch vor den Mund. Die trägt aber dick auf, schoss es Clara durch den Kopf. In welcher Branche sie wohl tätig war? Die Immobilienbranche stand in letzter Zeit ziemlich schlecht da. Erst mit Verzögerung kam ihr der Gedanke, dass ein gewisser Anteil der hier Versammelten möglicherweise Hinterbliebene mit echten Gefühlen waren, nicht nur Geschäftsleute mit echten Geldproblemen.

Zu ihrem Erstaunen folgte Marie ihr nicht, sondern blieb missmutig auf der Stelle stehen, während sich die Reihen um sie herum zu lichten begannen. Clara konnte es recht sein, dennoch ärgerte sie sich. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass Marie langsam alt wurde. Nicht äußerlich. Haut und Unterhautfettgewebe waren bei ihr in tadellosem Zustand. Sie war schlank und konnte ihre Glieder noch immer in alle möglichen Yogastellungen verbiegen. Und ihr Haar, obwohl ungefärbt, war ein so hübsches Durcheinander aus blonden und weißen Strähnen, dass nicht einmal der skrupelloseste Friseur bei ihr Hand anlegen wollte. Aber irgendwie verlor Marie in letzter Zeit ihren Biss. Clara behielt die Zeichen im Auge: eine beiläufige, altersmüde Bemerkung hier, ein Ziepen im Rücken da. Und immer wieder Müdigkeit. Gehen wir ins Kino? Zu müde. Trinkst du noch ein Glas? Müde, müde, müde. Sie konnte es nicht mehr hören. Was sie aber am meisten aufbrachte, war die fade, milchige Nettigkeit, die sie in letzter Zeit an ihrer Freundin beobachtete. Neulich hatte sie sogar die Kanzlerin verteidigt! Nach einer Fernsehdebatte, die sie beide getrennt voneinander verfolgt hatten, hatte Clara wie üblich zum Telefonhörer gegriffen, voller Vorfreude auf ihr gehässiges Lieblingsritual des gemeinschaftlichen Lästerns. Doch während sie lang und breit jeden Aspekt der Kanzlerin auseinandernahm und mit Hohn übergoss, blieb Marie seltsam still. Als Claras Beschimpfungen und herabsetzende Bemerkungen selbst für ihren eigenen Geschmack ein wenig redundant zu werden begannen, unterbrach sie sich mitten im Satz. »Was sagst du eigentlich dazu?« Ausnahmsweise lauschte Clara aufmerksam in den Hörer. Doch sie hörte nur Maries tiefe Atemzüge, dann ein halbes Stöhnen, gefolgt von einem noch tieferen Seufzer. »Die macht doch auch nur ihren Job.« Clara konnte es nicht glauben. »Du hast gerade die Kanzlerin verteidigt«, sagte sie.

Das stritt Marie natürlich vehement ab. Der Hinweis, dass jemand seinen Job mache, tauge wohl kaum zur glühenden Verteidigungsrede. Und Clara wisse sehr gut, dass sie keine Freundin der Kanzlerin sei. »Oh, ihr seid also keine Busenfreundinnen«, höhnte Clara. »Was denn dann? Gute Bekannte? Seelenschwestern?« Sie stichelte so lange weiter, bis sich Marie endlich entschuldigte. Sie liege, ehrlich gesagt, schon im Bett, habe bereits vor der Debatte ihr Sanogran genommen. Sie sei wohl schon etwas beduselt. Selbstverständlich verabscheue sie die Kanzlerin – und zwar leidenschaftlich. Doch es war offensichtlich, dass ihr die letzten Worte nur widerwillig über die Lippen kamen. Clara blieb misstrauisch. »Die Lauen spuckt der Herrgott wieder ins Meer«, sagte sie drohend, bevor sie endgültig den Hörer auflegte. Und die Alten auch, setzte sie im Stillen hinzu. So harmlos ihr Disput auch gewesen sein mochte, irgendetwas daran ließ sie bis heute nicht los.

Mechanisch ergriff Clara eine zerdrückte Rose vom Blumenhaufen und rückte einen Schritt in der Schlange...

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