Der Gesang der Flusskrebse - Roman

Der Gesang der Flusskrebse - Roman

von: Delia Owens

hanserblau, 2019

ISBN: 9783446265134

Sprache: Deutsch

464 Seiten, Download: 2138 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Gesang der Flusskrebse - Roman



1

Ma


1952


Es war ein sengend heißer Augustmorgen, und der feuchte Atem der Marsch verhängte die Eichen und Kiefern mit Nebel. Eine ungewöhnliche Stille herrschte zwischen den Palmettopalmen, nur durchbrochen vom leisen, bedächtigen Flügelschlag des Fischreihers, der sich aus der Lagune erhob. Und dann hörte Kya, gerade mal sechs Jahre alt, die Fliegengittertür knallen. Sie stand auf einem Hocker und war dabei, Maisgrieß aus dem Topf zu kratzen, den sie nun in das lauwarme Spülwasser sinken ließ. Nichts war mehr zu hören außer ihrem eigenen Atmen. Wer hatte die Hütte verlassen? Bestimmt nicht Ma. Sie ließ die Tür niemals zuschlagen. 

Aber als Kya zur Veranda rannte, sah sie ihre Mutter in einem langen braunen Rock, die Gehfalten schwangen ihr um die Knöchel, auf hochhackigen Schuhen den Sandweg hinunterstöckeln. Die Schuhe mit der abgeflachten Spitze waren aus künstlichem Krokodilleder. Die trug sie nur, wenn sie ausging. Kya wollte ihr hinterherrufen, aber sie hatte Angst, Pa zu wecken, deshalb öffnete sie nur die Tür und trat auf die wackeligen Holzstufen. Von dort konnte sie den blauen Koffer sehen, den Ma in der Hand trug. Normalerweise wusste Kya mit dem Vertrauen eines jungen Hundes, dass ihre Mutter zurückkommen würde, mit einem Stück Fleisch, in fettiges braunes Packpapier eingeschlagen, oder mit einem Hühnchen, dessen Kopf nach unten baumelte. Aber sie trug nie die Krokoschuhe, nahm nie einen Koffer mit.

An der Stelle, wo der Fußweg auf die Straße traf, drehte Ma sich immer um, reckte einen Arm in die Luft und schwenkte eine bleiche Hand, ehe sie den Pfad nahm, der sich durch Moorwald und Schilflagunen schlängelte und schließlich — falls die Gezeiten es zuließen — in die Stadt führte. Heute jedoch ging sie weiter, stolperte über die tiefen Furchen. Durch die Lücken zwischen den Bäumen war ihre hohe Gestalt immer wieder zu sehen, bis nur noch gelegentlich das weiße Kopftuch im Laub aufblitzte. Kya rannte zu der Stelle, sie wusste, von dort war der Weg zu sehen; bestimmt würde Ma von dahinten aus winken, aber als sie ankam, sah Kya nur noch den blauen Koffer — die Farbe im Wald so fehl am Platz — verschwinden. Eine Schwere, so zäh wie schwarzer Baumwollschlamm, verengte ihr die Brust, als sie zu den Verandastufen zurückkehrte, um zu warten.

Kya war das jüngste von fünf Kindern, die Geschwister deutlich älter, obwohl sie sich später nicht mehr an deren Alter erinnern konnte. Sie wohnten mit Ma und Pa zusammengepfercht wie Stallhasen in der grob zusammengezimmerten Hütte, deren mit Fliegendraht umschlossene Veranda wie ein großes Auge unter den Eichen hervorstarrte.

Jodie, der Bruder, der Kya am nächsten war, aber immerhin sieben Jahre älter, kam aus dem Haus und blieb hinter ihr stehen. Er hatte die gleichen dunklen Augen, das gleiche schwarze Haar wie sie, und er hatte ihr beigebracht, wie die verschiedenen Vögel sangen, wie die Sterne hießen, wie man das Boot durch Sägegras steuerte.

»Ma kommt wieder«, sagte er.

»Weiß nich. Sie hat die Krokoschuhe an.«

»’ne Ma lässt ihre Kinder nich allein. So was kann die gar nich.«

»Du hast mir erzählt, die Fuchs-Mama hat ihre Babys allein gelassen.«

»Schon, aber die hatte ja auch ein aufgerissenes Bein. Wenn sie versucht hätte, sich und ihre Jungen durchzubringen, wär sie verhungert. Da war’s besser, dass sie die Kleinen allein lässt, gesund wird und später wieder welche wirft, die sie dann auch großziehen kann. Ma is nich am Verhungern, die kommt wieder.« Jodie war nicht annähernd so zuversichtlich, wie er klang, aber er sagte es Kya zuliebe.

Den Hals wie zugeschnürt, flüsterte sie: »Aber Ma hat den blauen Koffer dabei, als hättse was Großes vor.«

Die Hütte lag etwas entfernt von den Palmettopalmen, die sich über Sandwatt bis zu einer Perlenschnur von grünen Lagunen erstreckten, und dahinter, in der Ferne, kam die weite Marsch. Meilenweit widerstandsfähiges Riedgras, das sogar in Salzwasser wuchs, nur unterbrochen von Bäumen, die der Wind nach seinem Belieben gekrümmt hatte. Eichenwald umringte die Hütte auf den anderen Seiten und schützte die nächstgelegene Lagune, deren Oberfläche vor Leben schäumte. Salzluft und Möwengeschrei drangen vom Meer durch die Bäume herüber.

Die Landnahme hatte sich seit dem sechzehnten Jahrhundert kaum verändert. Die Grenzen der weit verstreuten Besitzungen im Marschland waren nicht juristisch festgelegt, sondern wurden durch natürliche Markierungen abgesteckt — ein Bachlauf hier, eine abgestorbene Eiche dort —, und zwar von Gesetzlosen. Kein Mensch baut sich einen Palmetto-Unterstand in einem Sumpf, wenn er nicht vor jemandem auf der Flucht ist oder am Ende seines eigenen Weges.

Das Marschland wurde von einer zerfaserten Küstenlinie bewacht, die frühe Entdecker als »Friedhof des Atlantiks« bezeichneten, weil heftige Strömungen, gefährliche Winde und Untiefen entlang dessen, was die Küste North Carolinas werden sollte, Schiffe wie Kinderspielzeug zerschellen ließen. Ein Seemann schrieb in sein Tagebuch: »Fuhren die Küste ab … konnten aber keinen Zugang entdecken … ein gewaltiger Sturm überkam uns … zwang uns zurück auf See, um uns und das Schiff zu retten, und die Schnelligkeit einer starken Strömung riss uns mit …«

»Das Land … ist morastig und von Sümpfen bedeckt, daher kehrten wir zu unserem Schiff zurück … Abschreckung für alle, die hiernach in diese Gegend kommen, um zu siedeln.«

Wer nach bebaubarem Land suchte, zog weiter, und diese verrufene Marsch wurde gleichsam zu einem Netz, das ein Sammelsurium von meuternden Seeleuten einfing, von Ausgestoßenen, Schuldnern und Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Steuern oder Gesetzen, die ihnen nicht passten. Diejenigen, die nicht an Malaria starben oder vom Sumpf verschluckt wurden, bildeten ein wettergegerbtes Stammesgemisch aus etlichen Rassen und vielerlei Kulturen, und jeder von ihnen konnte einen kleinen Wald mit der Axt fällen oder einen erlegten Hirsch meilenweit schleppen. Wie Biberratten hatte jeder sein eigenes Territorium, musste sich aber an dessen Grenzen halten, wenn er nicht eines Tages einfach im Sumpf verschwinden wollte. Zweihundert Jahre später stießen entlaufene Sklaven dazu, die in die Marsch entkommen waren und »Maroons« genannt wurden, und noch später kamen befreite Sklaven, bitterarm und entkräftet, die sich aus Mangel an Möglichkeiten in diesem Land des Wassers zerstreuten.

Es mochte ja ein hartes Land sein, aber es war keineswegs karg. Vielschichtiges Leben — wuselige Strandkrabben, schlammstakende Sumpfkrebse, Wasservögel, Fische, Garnelen, Austern, fette Hirsche und dicke Gänse — tummelte sich an Land oder im Wasser. Ein Mann, dem es nichts ausmachte, sich um sein Abendessen zu bemühen, würde niemals Hunger leiden.

Inzwischen schrieb man das Jahr 1952, und somit waren einige Gebiete über vier Jahrhunderte hinweg von Menschen bewohnt worden, die nichts mit anderen zu schaffen hatten und über die es keinerlei Aufzeichnungen gab. Die meisten waren schon vor dem Bürgerkrieg gekommen, andere hatten sich erst in jüngerer Zeit niedergelassen, vor allem nach den Weltkriegen, als gebrochene, mittellose Männer zurückkehrten. Die Marsch engte sie nicht ein, sondern gab ihnen Halt und bewahrte ihre Geheimnisse, wie jeder heilige Boden. Niemanden interessierte es, dass sie das Land in Besitz nahmen, weil es sonst keiner haben wollte. Die Marsch war schließlich nur ein öder Sumpf.

So, wie die Marschbewohner ihren eigenen Whiskey brannten, machten sie auch ihre eigenen Gesetze — nicht wie die in Steintafeln gemeißelten oder auf Pergament geschriebenen, sondern tiefer gehende, eingestanzt in ihre Gene. Uralt und natürlich, wie die der Falken und Tauben. Ein Mensch, der in die Enge getrieben wird, verzweifelt oder isoliert ist, greift auf die Überlebensinstinkte zurück. Schnell und gerecht. Diese Instinkte werden immer Trumpfkarten sein, weil sie häufiger von einer Generation an die nächste weitergegeben werden als die sanfteren Gene. Das hat nichts mit Moral zu tun, sondern schlicht mit Mathematik. Tauben kämpfen untereinander ebenso oft wie Falken.

Ma kam an jenem Tag nicht zurück. Niemand sprach darüber. Pa schon gar nicht. Er stank nach Fisch und Fusel, als er scheppernd Topfdeckel anhob. »Was gibt’s zu essen?«

Die Geschwister zuckten mit gesenktem Blick die Achseln. Pa fluchte, torkelte dann wieder nach draußen, in den Wald. Es hatte früher schon Streit gegeben. Ma war sogar ein paarmal abgehauen, aber sie war immer zurückgekommen und hatte das erstbeste Kind, das sich...

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