Palast der Miserablen

Palast der Miserablen

von: Abbas Khider

Carl Hanser Verlag München, 2020

ISBN: 9783446266650

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 1835 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Palast der Miserablen



EINS

Lufternte


In meiner Familie war keiner von uns Jüngeren ein wilder Kerl. Der Einzige, der diese Bezeichnung verdiente, war unser Großvater. Er besaß die unschöne Eigenschaft, einfach jedem ohne Zögern und geradeheraus seine Meinung ins Gesicht zu speien. Es war ihm absolut gleichgültig, ob die Leute seine Worte zur Kenntnis nahmen, was sie über ihn dachten oder wie sie sich im Nachhinein fühlten. Er hatte mit seinen ätzenden Kommentaren und bösartigen Bemerkungen gestandene Männer zum Brüllen gebracht und wütende Witwen ihre Teppiche so hart ausschlagen lassen, dass diese Löcher bekamen. Nach jeder neuen Hasstirade ließ er sich gern selbstzufrieden auf seine Matratze im Wohnzimmer fallen und starrte stur die Decke oder Wand an.

Wenn sein einziger Sohn, mein Vater, erfuhr, dass Großvater erneut die Leute beleidigt hatte, versuchte er sich bei den Betroffenen für das »unangemessene Verhalten« des Greises zu entschuldigen. Normalerweise übernehmen Eltern die Verantwortung, wenn ihre Kinder ungezogen sind, aber in unserer Familie war es umgekehrt. Notgedrungen schob Vater es auf das fortschreitende Alter, dabei war Großvater schon als Kind ein Schreihals und so unberechenbar gewesen, dass er seine ganze Familie und die Nachbarschaft zur Verzweiflung gebracht hatte. Darüber kursierten auch achtzig Jahre später noch immer Anekdoten in unserem Dorf. Es hieß, selbst die Wildhunde hätten vor Schmerzen geheult und Großvater habe eigenhändig die Engländer aus den Stammesgebieten vertrieben, die sie zu einem Land vereinigt hatten, dem Irak. Manche behaupteten, die Zunge meines Großvaters sei so giftig und aggressiv wie die Zähne der Schwarzen Kobra, die nachts in den Büschen, Felsspalten und Erdhöhlen des Irak lauert.

Großvater galt bei den Leuten tatsächlich als heimtückische Giftnatter. Sobald man sein Zischen hörte, musste man die Flucht ergreifen. Leider konnte man meinen Großvater nicht einfach mit einem Säbel köpfen und das Problem auf diese Weise leicht beseitigen. Er war ein gebrechlicher, dürrer Mann, den die Last der Jahre tief gebeugt hatte. Sein Gesicht war so voller Falten wie die uralte Decke, die er ständig um die spitzen Schultern trug. Wenn ich Geschichten über seine Kindheit hörte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er einmal ein junger Mensch gewesen war. Ich kannte ihn nur faltig und grauhaarig. Wenn ich im Radio das Lied der libanesischen Sängerin Fairuz hörte, in dem sie das Antlitz der Stadt Beirut als »altes Matrosengesicht« bezeichnet, dachte ich immer, das würde auch sehr gut Großvater beschreiben.

Ihre Lieder hörten wir im Radio, sie gehörte zu jedem Morgen wie die ersten Sonnenstrahlen oder das Waschen des Gesichts. In anderen Gegenden gab es Hähne, welche mit ihrem Ruf die Menschen weckten. Bei uns war es Fairuz’ Lerchengesang. Das Morgenprogramm des staatlichen Radiosenders fing immer mit einigen Versen aus dem Koran an. Fünfzehn lange Minuten, dann endlich sang Fairuz für eine halbe Stunde, bis wieder die allgegenwärtigen Nachrichten über unseren Präsidenten dran waren. Die Stimme von Fairuz war so zauberhaft, dass man ihr einen Platz zwischen den Worten Allahs und denjenigen Saddams gewährte.

Großvater liebte ihre Lieder über alles. Im Teehaus des Dorfes spielte der Wirt immer eine Fairuz-Kassette ab, sobald er meinen Großvater sah. Er tat das nicht, weil er seinen Stammgast besonders mochte, sondern, weil der alte Quälgeist zumeist selig schwieg, solange er der libanesischen Schönheit lauschen konnte. Sie hatte auf ihn dieselbe hypnotische Wirkung wie die Flöte eines Schlangenbeschwörers auf seine Tiere. »Wenn Fairuz singt, schweigt Marzoq«, scherzte einst auch meine Mutter. »Nur sie bekommt das hin.«

Großvater Marzoq war so steif wie die Holzpuppen meiner Schwester und benutzte immer seinen Spazierstock oder einen Menschen als Stütze. Er ging langsam und wackelig wie ein Kind, das gerade erst gehen gelernt hat. Die meiste Zeit verbrachte er draußen auf dem Boden vor der Haustür oder im Teehaus. Sonst saß er auf seiner Matratze im Wohnzimmer und freute sich riesig, wenn meine Schwester und ich mit ihm spielen wollten. Denn für uns Enkelkinder war er ein Held. Qamer und ich hielten ihn wirklich für den besten Großvater der Welt, wir kannten nun einmal keinen anderen. So biestig er sich sonst auch gab, uns gegenüber war er handzahm. Wir tollten auf ihm herum, zogen an seinem langen Bart oder seinen riesigen Ohrläppchen und boxten ihn in den Bauch. Lange konnte er bei unserem wilden Treiben nicht mithalten, denn er war schnell erschöpft. Selbst bei ruhigen Spielen kam es vor, dass er mittendrin und urplötzlich einschlief. Sein Kopf sackte nach vorne auf die Brust, der Kiefer klappte runter und gab den Blick auf seine Zahnstummel frei. Dann schmatzte er noch mehrmals, seine Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern, und er begann, tief zu atmen. Gerade hatte er noch im Sand Bilder mit uns gemalt, eine mitreißende Geschichte erzählt oder mit einem Stock gegen mich gefochten, aber von jetzt auf gleich war er wie weggetreten.

Seine Lieblingsbeschäftigung blieb jedoch zweifelsohne das Reden. Wenn er einmal damit anfing, schien es, als wollte er sämtliche Wörter, die es im Arabischen gab, auf einen Schlag loswerden. Aus einer kleinen Anekdote machte er problemlos das Gilgamesch-Epos. Wir lauschten aufmerksam, und seine Stimme entführte uns ein ums andere Mal in magische Märchenwelten. Uns Kindern gefielen die Legenden sehr, aber mein Vater hasste sie regelrecht.

Die beiden sprachen kaum miteinander. Vater war es leid, ständig die Scherben aufkehren zu müssen, die der Alte in der Dorfgemeinschaft hinterließ. Und Großvater zerschlug reichlich Porzellan. Darüber hatten sie sich mehr und mehr entfremdet. Vater sah es nicht gerne, dass Großvater so viel Zeit mit uns verbrachte. Es fühlte sich für ihn wahrscheinlich wie Verrat an, dass Großvater sich uns gegenüber ganz anders verhielt, als mein Vater selbst es als Kind erlebt hatte. Er hatte bestimmt öfter die Faust gesehen als eine streichelnde Hand auf der Wange gespürt. Statt gemeinsam Fußball zu spielen, hatte es Tritte gegeben, wenn er ungezogen gewesen war. Außerdem hatte Vater unsägliche Angst, dass die Parteispitzel im Dorf Großvater irgendwann bei der Polizei anschwärzen würden, wenn er sein loses Mundwerk zu leichtsinnig gebrauchte. Denn es gab tatsächlich kaum einen Tag, an dem sich Großvater nicht über unseren Präsidenten und die Regierung lustig machte. Zum Glück hielten die meisten im Dorf meinen Großvater für einen Narren und nahmen ihn deshalb nie ernst. Vater war froh, wenn Großvater Marzoq schlief oder im Teehaus saß, dem Gesang von Fairuz lauschte und schwieg.

Die Stille zwischen beiden war für die restliche Familie oftmals unerträglich. Immer lag eine Anspannung in der Luft. Stumm saßen sie jeden Freitag zusammen auf dem Boden und aßen ihr Lieblingsgericht: gegrillten Fisch mit Brot aus Reismehl. Vater entfernte die Gräten und legte Großvater den Fisch auf den Teller, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder etwas zu sagen. Seit Jahren schon hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt.

Das alles änderte sich, als Großvater krank wurde. Das war im siebten Jahr des Irak-Iran-Krieges. Zu jener Zeit kam eines Tages unser Stammesführer, dessen Haus sich dicht an der Grenze zu Iran befand, mit einigen unserer Verwandten in unser Dorf und zu uns nach Hause. Großvater Marzoq sollte als der Stammesälteste seine Meinung äußern und seinen Rat geben.

Mein Vater war an jenem Morgen sehr aufgeregt. Die Männer hatten sich nicht angekündigt. Sie waren einfach da.

»Zahraa, koch bitte Tee für die Männer!«, sagte Vater in der Küche zu Mutter.

»Soll ich mich auch um das Mittagessen kümmern? Wie viele sind es?«

»Nur vier Männer.«

»Gut.«

Vater flüsterte nun: »Würden sie unsere Kinder nach ihrer Meinung fragen, bekämen sie vermutlich eine vernünftigere Antwort als von meinem Vater.«

»Sei nicht so! Auch wenn er schwierig ist, er hat viel erlebt. Marzoq ist weiser, als du denkst. Die Ältesten des Stammes wissen das.«

Bald darauf waren alle im Wohnzimmer versammelt. Die Männer saßen in einem Kreis auf dem Boden um meinen Großvater. Ich kauerte draußen vor der offenen Tür, tat so, als würde ich mit Steinen spielen, und lauschte dem Gespräch. Drei der Männer kannte ich, sie waren die Cousins meiner Eltern. Der vierte Mann war unser Stammesführer. Er sah jung aus im Vergleich zum Rest der anwesenden Männer, trug einen dünnen schwarzen Schnurrbart. Ein edler brauner Turban war um seinen Kopf gebunden, kurz geschorenes Haar schaute an den Seiten hervor, seine...

Kategorien

Service

Info/Kontakt