Why We Matter - Das Ende der Unterdrückung

Why We Matter - Das Ende der Unterdrückung

von: Emilia Roig

Aufbau Verlag, 2021

ISBN: 9783841226990

Sprache: Deutsch

397 Seiten, Download: 1889 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Why We Matter - Das Ende der Unterdrückung



»Ich, als Schwarze Frau …« – Rassismus in der Familie


Sehr früh musste ich lernen, dass Hautfarbe kein neutrales Merkmal ist. Meine Mutter ist Schwarz und mein Vater ist weiß, ich bin eine métisse, wie der französischsprachige Begriff für biracial lautet. Ein Wort, das meine Identität als Kind und im späteren Leben sehr prägte. Métisse wird mit Schönheit, exotischen Inseln und Weiblichkeit verbunden. Obwohl ich heute weiß, dass solche Konnotationen, auch wenn sie positiv zu sein scheinen, sowohl rassistische als auch sexistische Untertöne haben, nahm ich die Zuschreibung eher positiv wahr. Wenn mir Kinder in der Schule sagten: »Du bist Schwarz!« antwortete ich: »Nein! Ich bin métisse!«. Dass métisse besser ist als Schwarz, schien für mich eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und das war tatsächlich so: Gesehen durch die Augen einer Vierjährigen – und der gesamten Gesellschaft – war métisse besser als Schwarz, und weiß besser als métisse. Als eine Erzieherin hörte, wie ein Kind einem anderen »Du bist Schwarz« zurief, entgegnete sie: »So was sagt man nicht, es ist nicht nett.« Ihre Absicht war gut, doch durch ihre Aussage gab sie beiden Kindern zu verstehen, dass »Schwarz« ein Schimpfwort ist, und dementsprechend an sich eine negative Eigenschaft. Beide Kinder sehen doch, dass sie eine unterschiedliche Hautfarbe haben. Die Erzieherin hätte einfach sagen können: »Ja, er ist schwarz, und du bist weiß. Ihr seid verschieden, und beide schön.« Das wäre ihr aber nicht in den Sinn gekommen, weil in ihrem – und dem kollektiven – Unterbewusstsein »Schwarz« negativ konnotiert ist. Ob in Büchern, Liedern, Filmen, in der Werbung oder bei Spielzeug: Unserem kollektiven Unterbewusstsein wurden und werden permanent Bilder von unterlegenen Schwarzen geliefert. Existierende Unterschiede zwischen Menschen sind nicht das Problem, sondern die Wertung, die damit verbunden ist. Ersetzen wir in der oben erzählten Interaktion »Schwarz« mit »dick« oder »behindert«, haben wir das gleiche Ergebnis: eine negative Bewertung von Identitäten, die eigentlich neutral bewertet werden sollten. Den meisten von uns wird es schwerfallen, »Er ist dick/behindert«, zu sagen, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass wir den Menschen irgendwie beleidigen.

Wenn Hautfarbe keine Rolle spielt


In transracial-Familien werden Unterschiede oft geleugnet. Weil es einfach bequemer ist, sich nicht mit Differenz und Hierarchie zu beschäftigen. Weiße Eltern von Schwarzen, asiatischen und biracial Kindern tendieren dazu, die Hautfarbe ihrer Kinder auszublenden. Das wäre eine gute Sache, wenn ihre Realität und die Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer Hautbarbe machen, nicht ebenfalls ausgeblendet würden. Eltern wollen sich in ihren Kindern wiederfinden und suchen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Die Hautfarbe ist zwar nur eines der Identitätsmerkmale, wie Augen- und Haarfarbe, Sommersprossen, Figur und Charaktereigenschaften, sie ist aber nicht neutral und enthält eine besondere Erfahrung, die von weißen Menschen nicht geteilt werden kann. Weiße Menschen werden nie wissen, wie es sich anfühlt, die Welt als Person of Color innerhalb einer weißen Mehrheit zu erleben. Eltern wollen ihre Kinder nicht nur beschützen, sondern auch verstehen und sich in ihre Haut hineinversetzen. Die Erkenntnis, dass die eigenen Kinder die Welt anders erfahren und unter etwas leiden können, gegen das man selbst abgeschirmt ist, kann deshalb schmerzhaft und frustrierend sein. Empathie jedoch verlangt nicht unbedingt, dass man über die dieselben Erfahrungen verfügt.

Ich bin in einer rassistischen Familie groß geworden. Mein Großvater väterlicherseits war sein ganzes Leben ein Anhänger von Le Pen und sehr aktiv im Front National – der rechtsextremistischen Partei Frankreichs. In Zeiten von Wahlkampagnen waren in Nordfrankreich auf sämtlichen Straßen Plakate mit seinem Bild zu sehen. Er hat mich sogar mit ins Hauptquartier des Front National in der Nähe von Paris genommen, als ich sechs Jahre alt war. Ich kann mich erinnern, dass jemand meinen Kopf streichelte und mich anlächelte. Vielleicht war es sogar Le Pen in Person. Meine ganze Kindheit über habe ich aus seinem Mund Beleidigungen über Schwarze, Araber*innen, Muslim*innen und ab und zu Juden*Jüdinnen gehört. Gleichzeitig war er ein sehr lieber Opa und hat mich und meine Schwestern wie seine anderen Enkelkinder behandelt, die weiß sind. Meine Großmutter väterlicherseits verbirgt ihre jüdische Identität seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem viele ihrer Familienmitglieder ermordet wurden. Sie ließ sogar ihre vier Söhne taufen, damit sie bei Bedarf das Zertifikat zeigen können. Nach meinem Großvater hat sie zwei weitere Männer geheiratet, die ebenfalls offenkundig rassistisch und antisemitisch waren. Vielleicht war es für sie ein Schutzmechanismus, dem Feinde nah zu sein. Wie dem auch sei, wir Kinder mussten uns auch ihre rassistischen Aussagen über Schwarze und arabische Menschen anhören. Beide Großeltern väterlicherseits sagten vor uns, ihren métisse-Enkelkindern und ihrer Schwarzen Schwiegertochter, herabwürdigende Dinge über Schwarze Menschen an sich, ohne sich dabei schlecht zu fühlen – und ohne, dass mein Vater jemals dagegen aufbegehrte. Wie kann es sein, dass sie eine solch klare Trennung vollziehen konnten, zwischen uns und den anderen Schwarzen? Und warum hat uns mein Vater nicht verteidigt? Sie konnten das, weil sie uns nicht gesehen haben. Sie haben unsere Hautfarbe ausgeblendet, damit sie uns akzeptieren und lieben können, ohne dass es bei ihnen innere Konflikte auslöst. Menschen, die gegenüber bestimmten minorisierten Gruppen negative Vorurteile haben, können trotzdem enge Beziehungen mit Mitgliedern dieser Gruppen entwickeln. Als sie schwanger mit ihrem ersten métisse-Kind war, sagte mir eine weiße Bekannte: »Ich hoffe, dass sie nicht zu krasse afrikanische Gesichtszüge haben wird. Und hoffentlich auch keine krausen Haare. Hoffentlich wird sie wie du aussehen.« Es klang wie eine Bedingung für die Liebe, die sie ihrem Kind geben würde. Wie würde sie mit ihrer Tochter umgehen, falls sie ihr zu Schwarz sein würde? Als ich mit meiner Anwort: »Ich als Schwarze Frau …« einsetzte, unterbrach mich eine andere Freundin: »Emilia, für mich bist du aber nicht Schwarz. Ich sehe dich nicht als Schwarz«. Ich musste damals kurz überlegen: Sieht sie mich wirklich als weiß? Würde sie einer braunäugigen Freundin sagen: »Für mich hast du keine braunen Augen«? Hatte es mit der Tatsache zu tun, dass ich métisse bin? Doch auch meiner Schwarzen Mutter wurde dieser Satz sehr oft von ihren weißen Freundinnen oder Bekannten gesagt. Außerdem kam die Freundin aus den USA, wo ich eindeutig als Schwarz gelte. Ihre Aussage war Ausdruck der kognitiven Dissonanz, die bei so vielen Menschen ausgelöst wird: »Schwarz ist negativ. Ich mag diese Person. Deshalb ist sie nicht Schwarz.«

Genauso wie die Spitzenkandidatin der AfD Alice Weidel mit einer Frau aus Sri Lanka verheiratet sein kann, kann mein Großvater sowohl rassistisch als auch liebevoll gegenüber seinen Schwarzen Enkeln sein. Das wurde mir noch einmal eindrucksvoll bestätigt, als ich im Rahmen einer Arte-Dokumentation über das Thema Gerechtigkeit meinen Großvater väterlicherseits interviewt habe. Er freute sich sehr, mich zu sehen, umarmte und küsste mich. Nach dem Kamera- und Soundcheck stellte ich meine erste Frage: »Opa, was ist für dich das größte Problem, mit dem unsere Gesellschaft konfrontiert ist?« Mir stand nach seiner Antwort ein paar Sekunden vor Staunen der Mund offen: »Die Rassenmischung ist das größte Problem unserer Zeit.« Trotz meines Erstaunens wusste ich, dass er sich der Absurdität der Situation nicht bewusst war. Daran, dass eine solche Aussage mich zutiefst verletzen könnte, hatte er offensichtlich nicht gedacht. Meine Schwester erlebte eine ähnliche Situation: Unsere Großmutter sagte ihr, dass unser Vater aufhören solle, Beziehungen zu Schwarzen und »exotischen« Frauen zu haben, weil sie geldgierig und betrügerisch seien – ohne zu »bemerken«, dass ihre Enkelinnen genau solche Frauen sind. In beiden Interaktionen haben unsere Großeltern unsere Hautfarbe – einen Teil unserer Identität – ausgeblendet. Das ist ein Zeichen von fehlender Empathie, aber auch von ungleich verteilter Macht: Unsere Gefühle und Verletzlichkeit sind weniger wichtig als die Freiheit meiner Großeltern, ihre Meinung auszudrücken.

Diese Machtausübung wurde von meinem Vater verstärkt, indem er solche Aussagen nicht als rassistisch verurteilte. Ganz im Gegenteil wurden beide Großeltern als »überhaupt nicht rassistisch« und »liebevoll« bezeichnet und geschützt. Mein Vater saß beim Interview für die Arte-Dokumentation im Hintergrund und konnte alles hören. Am Ende des Drehs, der mehrere Stunden dauerte, war ich emotional erschöpft und gleichzeitig erleichtert, dass der Rassismus meines Großvaters nicht mehr verleugnet werden konnte: Ich habe alles nicht geträumt, er hat es tatsächlich vor der Kamera gesagt. Auf dem Rückweg im Auto nahm mein Vater eine vorwurfsvolle Haltung mir gegenüber ein, pochte darauf, dass mein Opa nicht rassistisch sei. Er brachte mich in die Position, mich vor ihm für die Dokumentation rechtfertigen zu müssen. Was ich von ihm gebraucht hätte, wäre Empathie gewesen, und eine Entschuldigung dafür, dass er uns nie verteidigt hatte.

Die Beweislast fällt immer denen zu, die Rassismus erfahren. Weiße Menschen genießen eine unantastbare Unschuldsvermutung. Solange eine Tat nicht erwiesen rassistisch ist, ist sie es sicher nicht....

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