Ängste, Panik, Sorgen

Ängste, Panik, Sorgen

von: Daniel Voigt

Carl-Auer Verlag, 2022

ISBN: 9783849782610

Sprache: Deutsch

239 Seiten, Download: 3382 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ängste, Panik, Sorgen



2 Klinische Perspektive auf Angst


2.1Krankheit – Störung – Diagnose: Ist es nur Angst oder schon eine Störung?


Die Begriffe »psychische Krankheit« und »psychische Störung« werden oft synonym verwendet. Im traditionellen medizinischen Verständnis gehören zum Begriff der Krankheit neben spezifischen Symptomen auch bestimmte Ätiologie- und Therapievorstellungen. Da aber im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie glücklicherweise generelle Uneinigkeit über die »wahren« Ätiologien und »richtigen« Therapien herrscht, wurde in den gängigen psychopathologischen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) auf ätiologische Erklärungen weitgehend verzichtet und der Begriff der psychischen Störung statt Krankheit gewählt.

Auch aus systemischer Sicht ist der Störungsbegriff sinnvoller, weil er auf Erlebens-, Verhaltens- und Interaktionsprozesse beziehbar ist. Jemand erlebt eine »Störung« in seinem intrapsychischen System oder in seinem sozialen Beziehungssystem, er »fühlt sich gestört«. Der Krankheitsbegriff hingegen impliziert viel stärker ein rein individuelles Defizit.

Aus systemischer Sicht wird eine psychische Störung oder Krankheit als Teil einer

»… je nach Perspektive als störend oder gestört erlebten Interaktion angesehen, an der eine oder mehrere Personen so sehr leiden, dass ihnen Krankheitswert zugeschrieben wird« (Schweitzer u. von Schlippe 2007, S. 15).

Störung und Krankheit sind daher im systemischen Verständnis keine »objektive« Wirklichkeit, sondern Ergebnisse sozialen Aushandelns. Es sind Zuschreibungen und Wirklichkeitskonstruktionen, die von Personen vorgenommen werden und die auf bestimmten Annahmen beruhen.

Entscheidend für Betroffene, ob sie ihre Angst als »krank/gestört« und behandlungsbedürftig erleben, ist in der Regel das Ausmaß der Lebenseinschränkungen – wenn subjektiv bedeutsame Dinge von Betroffenen nicht mehr getan werden können – und die mit der Angst verbundenen Probleme (z. B. körperliche Beschwerden, Schlafstörungen, Verspannungen).

2.1.1Psychische Störungen als Wirklichkeitskonstruktionen

Diagnosen psychischer Störungen wurden als Wirklichkeitskonstruktionen im Kontext von Heilkunde und psychiatrisch-psychotherapeutischem Handeln entwickelt. Sie konstruieren Wirklichkeit auf zwei Ebenen: zum einen auf Konstruktebene – wie Diagnosen überhaupt in der Fachwelt entwickelt werden und Eingang in die Klassifikationssysteme finden, zum anderen auf individueller Ebene der Zuschreibung an eine Person – wie und unter welchen Umständen Diagnosen an Hilfesuchende vergeben werden und welche Auswirkungen das hat.

2.1.1.1Konstruktebene (ICD, DSM): Diagnosen als Verhandlungsergebnisse

Ob ein Erleben oder Verhalten durch die Expertengremien in den psychiatrischen Diagnosesystemen (ICD und DSM) als pathologisch bewertet wird und wie bestimmte Symptome zu Störungen zusammengefasst werden, dabei spielen alle wichtigen Aspekte von sozialen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen eine Rolle: Macht und Einfluss, Koalitionen, Zugang zu Informationen und finanziellen Ressourcen etc. Ob ein Phänomen als Störung bezeichnet wird, ist darum nicht nur Folge von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch von gesellschaftlichem Druck (erst 1991 wurde Homosexualität als »psychische Störung« aus der ICD gestrichen).

Mit jeder Novellierung von ICD und DSM »entstehen« zudem neue Störungen. So ist etwa im DSM-5 erstmals die Diagnose einer Trennungsangststörung auch bei Erwachsenen möglich. In der ICD-11 wird mit der neuen Diagnose der komplexen PTBS die Vielfalt von Affektregulationsproblemen, negativer Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörungen in Verbindung gebracht mit wiederholten oder andauernden traumatischen Erfahrungen. Insbesondere um die Berechtigung der aus meiner Sicht sehr nützlichen Diagnose »komplexe PTBS« gab es heftige Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass Patienten diese Störung nun für Diagnostizierende nach ICD-11 »haben« können, während sie sie nach DSM-5 »nicht haben«.

2.1.1.2Individuelle Ebene: Diagnosen als Hypothesen mit Vor- und Nachteilen

Diagnosen sind in der Logik des Gesundheitswesens die notwendige Zugangsvoraussetzung für Hilfen. Für Menschen, die eine krankenkassenfinanzierte Psychotherapie aufsuchen, gilt darum: Ohne Diagnose keine Therapie.

Welchen Unterschied macht es nun, ob wir das Erleben und Verhalten einer Person als berechtigte, vielleicht auch zu überwindende, dabei aber normale, gesunde Angst ansehen oder ob wir es mit dem Etikett einer psychischen Störung und einer Diagnose versehen?

Diagnosen lassen sich als Hypothesen bzw. Heuristiken verstehen, die dem Ziel dienen, therapeutisch hilfreich zu sein. Der Sinn solcher Heuristiken und die Prüfung der diagnostischen Hypothese ergibt sich daher aus ihrem therapeutischen Nutzen, so wie sich aus konstruktivistischer Sicht die Richtigkeit einer Konstruktion aus ihrem kommunikativen Nutzen ergibt (Ludewig 2009, S. 32 ff.). Eine objektive Bewertung in »krank« oder »nicht krank« bzw. »richtige« und »falsche« Diagnosen ist hingegen weder vollständig möglich noch sinnvoll.

Die Bewertung als »krank« oder »gestört« und die konkreten Diagnosen sollten daher auf ihre hilfreichen und schädlichen Auswirkungen geprüft werden: Welche möglichen Vor- und Nachteile ergeben sich aus einer Diagnose für die betroffenen Patienten, deren Bezugssystem sowie die beteiligten Professionellen (siehe Kasten 1)?

2.1.1.3Vor- und Nachteile von psychiatrischen Diagnosen

Vorteile:

Schutz vor Überforderung und Abwertung/sozialer Ausgrenzung (»kann nicht« statt »will nicht«)

Entlastung von Schuld und Versagensgefühlen (»Die Krankheit ist schuld« statt »Ich bin zu dumm …«)

gesicherter Anspruch auf Hilfen wie Psychotherapie, Versorgungssysteme (z. B. Krankengeld)

subjektive Verstehbarkeit und Handhabbarkeit der Symptome sowohl für Patientinnen (»Ich weiß, was mit mir los ist«) als auch für Therapeutinnen (»Ich weiß, was zu tun ist«)

erleichterte Kommunikation unter Professionellen durch Komplexitätsreduktion, Vergleichbarkeit für Forschung

Nachteile:

Risiko der Chronifizierung und Festschreibung von Problemen als selbsterfüllende Prophezeiungen

Probleme werden aus dem Kontext und der Interaktion herausgelöst und einem »Patienten« und seiner »Störung« zugeschrieben

Risiko von Stigmatisierung der Betroffenen

Ausschluss oder Nachteile bei Berufsunfähigkeits-, Lebens- und privaten Krankenversicherungen sowie beruflichen Gesundheitsprüfungen, z. B. vor einer Verbeamtung

Ausblenden von Ressourcen, Stärken und Fähigkeiten der Person

Sinnhaftigkeit und kommunikativer Aspekt von »Symptomen« wird vernachlässigt

gesellschaftliche und soziale Faktoren werden ausgeblendet

Kasten 1: Vor- und Nachteile psychiatrischer Diagnosen

Die kritischen Auswirkungen von Angstdiagnosen halten sich, verglichen mit anderen psychiatrischen Diagnosen (z. B. »Persönlichkeitsstörungen«), sicherlich noch in Grenzen. Positiv aus Patientensicht ist häufig, dass mit der Diagnose z. B. einer Panikstörung oder einer sozialen Angststörung ein Zugewinn an Entlastung, Selbstakzeptanz (»Ich bin nicht dumm und nicht verrückt«), Selbstverstehen und Zugehörigkeit verbunden ist (»Anderen geht es auch so, ich bin nicht allein«). Dies sind zentrale Teile des für das Erleben von Gesundheit so wichtigen Kohärenzgefühls (vgl. das Salutogenesemodell von Antonovsky 1997).

Andererseits fokussiert die Diagnose einer Angststörung stark auf defizitäre Aspekte des Erlebens und Verhaltens (statt z. B. Angst als sinnvolle Bedürfnisinformation zu verstehen). Sie impliziert analog zu medizinischen Modellen das Ziel des »Wegmachens« der Symptome statt Akzeptanz und Integration. Zudem kann die Diagnose einer Angststörung als durchaus stigmatisierend im Sinne von »eingebildet krank« erlebt werden, insbesondere wenn zunächst der organmedizinische Bereich konsultiert und eine »Psycho-Diagnose« vom Patienten als Entwertung seiner körperlichen Beschwerden erlebt wird.

2.1.2Wie nützlich ist die klinische Diagnosenbrille für systemische Therapeutinnen?

In der Systemischen Therapie...

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