Autismus-Spektrum-Störungen

Autismus-Spektrum-Störungen

von: Karoline Teufel, Sophie Soll

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2021

ISBN: 9783844430752

Sprache: Deutsch

151 Seiten, Download: 9629 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autismus-Spektrum-Störungen



|23|3  Ursachen


Die Ursachen Autismus-typischer Verhaltensweisen zu kennen, ist bei Gesprächen mit Eltern und deren Kindern im Autismus-Spektrum sowie für die Entwicklung einer eigenen Haltung dem Schüler gegenüber von Vorteil. Oftmals werden Eltern in Situationen in der Öffentlichkeit, in denen ihr Kind herausfordernde Verhaltensweisen (siehe Kapitel 6) zeigt, für dieses Verhalten des Kindes und ihre vermeintlich schlechte Erziehung direkt verantwortlich gemacht. Kommentare wie „Die müssen halt mal konsequenter sein!“ oder „Das Kind ist ja schlecht erzogen!“ werden oft, z. B. im ÖPNV oder bei Elternabenden, recht unverblümt von fremden Personen an die Eltern gerichtet. Für Eltern und Betroffene selbst ist es aus verschiedenen Gründen von zentraler Bedeutung, dass zumindest ihr engeres Umfeld die Hintergründe ihrer Beeinträchtigung kennt.

Den Eltern und dem Schüler mit Interesse und mehr Verständnis zu begegnen ist angesichts der tatsächlichen Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen also ein weitaus besserer Ansatz.

Die Informationen in diesem Kapitel stammen aufgrund der wissenschaftlichen und methodisch herausragenden Qualität hauptsächlich aus der „S3-Leitlinie“ für ASS (siehe oben). Die wichtigsten Punkte daraus werden hier aufgegriffen.

3.1  Biologisch-genetische und Umweltrisikofaktoren


In der aktuellen Forschung werden viele mögliche Ursachen für ASS untersucht. In diesem Kapitel werden biologisch-genetisch bedingte Veränderungen des zentralen Nervensystems sowie Umweltrisikofaktoren, die in der Schwangerschaft wirken, dargestellt. Diese beiden Felder gelten aktuell als Hauptursachen bei der Entstehung von ASS. Die zugrundeliegenden Mechanismen sind äußerst vielfältig und komplex, und die Ursachenforschung ist noch nicht abgeschlossen (AWMF S3-LL, 2016); ein eindeutiges Entstehungsmodell kann nicht benannt werden.

Ein häufig diskutierter Aspekt in Bezug auf Entwicklung(sstörungen) ist die Frage nach „Anlage vs. Umwelt“. Zahlreiche Entwicklungsbereiche sind biologisch (ge|24|netisch oder epigenetisch) vorgebahnt. Insofern spielt die Anlage grundsätzlich eine große Rolle in Bezug auf die kindliche Entwicklung. Besonders deutlich ist dies bei entwicklungspsychiatrischen Erkrankungen, wie z. B. ASS (Johnson et al., 2015). Jedoch findet Entwicklung immer auch in Interaktion mit der Umwelt statt, sodass Umweltbedingungen die Entwicklung langfristig auch beeinflussen können. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass bei der Entstehung psychischer Erkrankungen genetische und Umweltfaktoren zusammenhängen können und die Verknüpfungen beider Faktoren mannigfaltig sind.

Wenn in diesem Zusammenhang von einer „Erblichkeit“ (Heritabilität) gesprochen wird, meint dies „den Anteil an der Gesamtvarianz eines phänotypischen Merkmals in einer Population, der auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden kann“ (Lieb, 2006 in: Wittchen und Hoyer, S. 272). Stark vereinfacht gesagt, steht der Begriff Heritabilität hier somit für die Erblichkeit von autismusspezifischen Merkmalen.

Es wurden in zahlreichen Studien Risikofaktoren gefunden, deren Vorliegen die Wahrscheinlichkeit für eine ASS erhöhen. So wurden biologisch-genetische Risikofaktoren gefunden, die einzelne Gene (sog. monogene Erkrankungen) oder eine Kombination von mehreren Genen (polygene Erkrankungen) gleichzeitig betreffen und die eine ASS verursachen können. Monogene Erkrankungen können von den Eltern vererbt werden, teilweise entstehen diese aber auch durch „Keimbahnmutationen“ ganz neu („de novo Mutationen“) in der frühen Entwicklung des Ungeborenen. Dabei tritt das Erbgut einer Zelle spontan verändert auf und gibt dieses dann so an die nächste Zellgeneration weiter. Dies gilt ebenso für chromosomale Störungen, bei denen bspw. Abschnitte von bestimmten Chromosomen dupliziert auftreten. Bei polygenen Erkrankungen gelten Gen-Umwelt-Interaktionen als Ursache (AWMF S3-LL, 2016).

Die Umweltrisikofaktoren, die vor allem während der Schwangerschaft früh auf das Ungeborene wirken und als bedeutend für die Entstehung einer ASS herausgestellt wurden, sind somatische Erkrankungen der Mutter sowie unbeabsichtigte Einflüsse einer medikamentösen Behandlung während der Schwangerschaft. Vor allem das zur Behandlung von Epilepsien eingesetzte Antiepileptikum Valproat© sowie Antidepressiva (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI) gelten dabei als Risikofaktoren. Virusinfektionen während der Schwangerschaft (besonders Röteln und Herpes) sowie ein Diabetes mellitus der Mutter vor und während der Schwangerschaft werden ebenfalls als Risikofaktoren benannt (AWMF S3-LL, 2016). Auch die Belastung durch Umweltgifte, Frühgeburtlichkeit (Geburt vor der 32. Schwangerschaftswoche), Gehirnblutungen mit der Folge einer infantilen Zerebralparese und ein geringes Geburtsgewicht gelten als Risikofaktoren für die Entstehung einer ASS-Symptomatik (Freitag, Kitzerow, Medda, Soll & Cholemkery, 2017).

|25|Ein höheres Alter der Eltern zum Zeitpunkt der Zeugung zählt ebenfalls als Ursache, da in höherem Alter vermutlich häufiger Spontanmutationen, chromosomale Abweichungen sowie Veränderungen der Genaktivität (epigenetische Veränderungen) auftreten – und zugleich die Reparaturmechanismen mit zunehmendem Alter abnehmen. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind indes eher im Zusammenhang mit einer vorliegenden genetischen Grunderkrankungen zu sehen; diese sind häufig Ursache für solche Ereignisse und können auch bei Kindern mit einer ASS auftreten (AWMF S3-LL, 2016).

3.2  Veränderte Gehirnentwicklung und -differenzierung


Personen mit einer ASS weisen durch das Auftreten dieser genannten biologisch-genetischen- und Umweltrisikofaktoren eine veränderte Gehirnentwicklung und -differenzierung in den Gehirnarealen auf, die für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen, aber auch für soziale Fertigkeiten, eine gelingende Handlungsplanung sowie für Fähigkeiten der Aufmerksamkeitskontrolle wichtig sind. Letztlich führen sie dadurch auch zu den beobachtbaren autismusspezifischen Symptomen, die in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurden und die Auswirkungen auf den (schulischen) Alltag haben (Freitag et al., 2017).

|26|3.3  Familiäre Häufung


Weil es, wie beschrieben, mehrere Ursachen für ASS geben kann, lässt sich keine exakte Zahl für das Risiko einer Vererbung benennen. Je nach angenommener Prävalenz und in die Studie eingeschlossener Personen (z. B. eineiige vs. zweieiige Zwillinge) variiert das ermittelte Risiko durchaus. Es ist insgesamt jedoch von einer Risikospanne von 64 % bis 91 % auszugehen (Tick, Bolton, Happe, Rutter & Rijsdijk, 2016). Diese Zahlen deuten darauf hin, dass genetische Faktoren eine große Rolle spielen. Ein weiterer wichtiger Faktor, z. B. in der genetischen Beratung, ist das sogenannte Widerholungsrisiko für ein weiteres Kind. „Das Wiederholungsrisiko bei Geschwistern ist ca. 20-fach erhöht.“ (Freitag et al., 2017, S. 762). Sandin, Lichtenstein, Kuja-Halkola, Larsson, Hultman und Reichenberg (2014) geben an, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem weiteren Kind ebenfalls eine ASS-Diagnose zu erhalten, zwischen 10 % und 20 % liegt, wenn der zugrunde liegende Risikofaktor nicht bekannt ist.

Ist der Risikofaktor bekannt, kann sich das sog. „spezifische Wiederholungsrisiko“ sowohl zugunsten als auch weiter zuungunsten für ein weiteres Geschwisterkind mit einer ASS-Diagnose verändern (AWMF S3-LL, 2016).

3.4  Ausgeschlossene Risikofaktoren


Als Risikofaktor ausgeschlossen werden nach aktueller Forschungslage Impfungen. Besonders die 3-fach-Impfung gegen Röteln, Masern und Mumps wird in diesem Zusammenhang häufig genannt. Da diese Impfung zum Zeitpunkt der U9-Kindervorsorgeuntersuchung (5 – 6 Jahre) empfohlen wird und in diesem Zeitfenster ASS oftmals besonders auffällig werden, besteht zwar möglicherweise ein zeitlicher, jedoch kein ursächlicher Zusammenhang (Taylor, Swerdfeger & Eslick, 2014). Tabak- und Alkoholkonsum gelten nicht als autismusspezifischer Einflussfaktor, sollten aber aufgrund der schädigenden Wirkung während einer Schwangerschaft dennoch grundsätzlich vermieden werden (Freitag...

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